Ich war so müde und ausgelaugt, dass ich mich hinlegte und kurz darauf einschlief.
Doch dann erwachte ich von einem lauten Geräusch, das mich unsanft aus dem Schlaf riss. Verschlafen spähte ich zu Tyrons Zelle hinüber. Er schlug mit der Faust immer wieder an die Steinwand seines Gefängnisses. "Was tust du da?", wollte ich verständnislos wissen und sah ihn fragend an. "Ich hatte gehofft, dass die Wände nicht so stabil sind, wie sie aussehen. Sind sie aber.", gab er seufzend zurück und ließ von der Mauer ab. Dann sank er zu Boden, hielt seine Hand und betrachtete seine wunden, geröteten Fingerrücken. "Hast du noch nicht geschlafen?", fragte ich weiter, denn inzwischen kam helles Tageslicht in unsere Zellen gestrahlt, es war also bereits der nächste Morgen. Tyron schüttelte den Kopf. Das hätte ich mir eigentlich auch denken können. Tiefe Augenringe zeichneten sich in seinem Gesicht ab und sein müder Ausdruck verriet alles. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht nach einem Plan gesucht, nach einer Lösung, nach einem Ausweg aus diesem verdammten Loch. Doch wie es aussah, waren alle seiner bisherigen Einfälle nicht aufgegangen, sonst wäre es sicher nicht so weit gekommen, dass Tyron tatsächlich dachte, er könne die Wände mit seinen bloßen Fäusten einschlagen. Diese Hoffnungslosigkeit stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er wusste nicht, wie es weiter gehen sollte oder ob wir nicht eh schon bald von Dark getötet werden würden. Diese Unwissenheit machte ihn verrückt und trieb ihn in den Wahnsinn. Denn er erhob sich wieder und schlug weiter auf die Wände ein, obwohl er sicherlich wusste, es wäre aussichtslos. Doch er konnte nicht still dasitzen, nichts tun und auf den Tod warten, genauso wenig wie ich es konnte, deshalb fragte ich "Gibt es einen Plan B?". Tyron hörte damit auf, die Mauer zu verprügeln, gegen die er sowieso nicht die geringste Chance hatte und sah mich erwartungsvoll an "Ich weiß nicht. Hast du einen?". Ich überlegte eine Weile und eine merkwürdige Stille legte sich über den Raum. Wir schwiegen uns an und suchten beide zwingend nach irgendetwas, das uns helfen konnte. Dann kam mir ein Einfall - der Einzige, den wir bis jetzt hatten "Ja, ich hab einen!", rief ich und unterbrach die Stille zwischen uns. Tyron hob die Augenbrauen und ich erklärte "Wenn der Wentigos wieder kommt, musst du ihn ablenken und ich versuche solange, die Schlüssel irgendwie von ihm zu klauen." Er verdrehte nur die Augen "Das klappt niemals. Erstens kommst du da sicher nicht hin, weil so schmal ist der Gang zwischen unseren beiden Zellen nicht und zweitens, merkt er das doch sofort. Ob du's glaubst oder nicht, aber Wentigos sind nicht so blöd wie sie aussehen.", gab er besserwisserisch zurück. "Trotzdem müssen wir es versuchen, oder hast du eine bessere Idee? Ich gehe mal nicht davon aus, also krieg mal deinen Arsch hoch, fang an, etwas Sinnvolles zu tun und hör gefälligst damit auf, in Selbstmitleid zu ertrinken, das hilft uns auch nicht weiter!", wies ich ihn zurecht und sah ihn mit ernster Miene an. "Ich will dir nur keine falschen Hoffnungen machen, denn nun sieht es so aus, als würden wir hier unten verrecken.", kaum hatte er ausgesprochen, ging die Tür erneut auf und ein Wentigos trat herein. Doch es war nicht derselbe, der sonst immer kam. Dieser sah viel machtvoller und imposanter aus, nicht wie ein Bediensteter zweiter Klasse. Prunkvolle Ringe funkelten golden an seinen Fingern, das lange Gewand, das er als Umhang trug, schleifte leise am Boden entlang und eine mit Diamanten und Rubinen bestückte Kette baumelte um seinen Hals, er trug ein königliches Schwert, das nicht einmal einem Ritter würdig wäre, bei sich und kam erhobenen Hauptes und mit prüfendem, steinernen Blick auf uns zu. Ich erschauderte. Auch ohne nachzufragen, war mir glasklar, wer er war.
Astarot Dark, erbarmungsloser König und Alleinherrscher der Wentigos. Mir leuchtete sofort ein, dass wir geliefert waren und ich senkte automatisch respektvoll den Blick vor ihm. Selbst Tyron verstummte, doch er schien sich nicht unterlegen zu fühlen, denn er setzte wieder einmal sein verachtendes Gesicht auf, mit so viel Hass, wie er nur zum Ausdruck bringen konnte. Dark kam immer näher und ich spürte, wie mich eine Gänsehaut überkam. Tyron beobachtete ihn kritisch und misstrauisch bei jedem Schritt und verharrte mit seinem Blick stets an seinem Schwert. Er ließ seine Augen keine Sekunde von ihm abweichen und bewegte sich nicht, Tyron saß nur still da, mehr musste er auch nicht tun, denn sein Blick sprach Bände und konnte mehr aussagen, als irgendwelche Worte je dazu fähig sein würden. Deshalb schwieg er und kniff seine Augen so weit zusammen, bis man sie nur noch durch kleine Schlitze erkennen konnte. Dark hatte Tyrons Zelle erreicht, er umfasste die Gitterstäbe und ich sah wie ein hinterhältiges Grinsen Darks Lippen umspielte. "Wow. Ich bin beeindruckt. Hätte nicht gedacht, dich lebend wiederzusehen. Damals erschien es mir unmöglich, dass ich dich je wieder finden könnte. Doch nun bist du hier. Du bist mir sozusagen in die Arme gelaufen und hast sogar noch jemanden mit in deine Probleme gerissen, wie ich sehe. Es kommt mir tatsächlich so vor, als willst du noch einmal an dem Tod von jemandem schuld sein.", kommentierte er und provozierte Tyron damit nur umso mehr. Ich war so unglaublich verwirrt. Was sollte das denn jetzt wieder heißen? Kannten die beiden sich etwa schon? Es sah jedenfalls ziemlich danach aus, denn Tyrons Augen weiteten sich empört und er kam näher zu Dark gelaufen. "Weißt du, was das ist?", fragte Dark herausfordernd und deutete auf sein Schwert. Tyron schluckte und sah weg. Er schien es zu wissen, doch er war nicht gerade davon erfreut. Ganz im Gegenteil. Tyron trat weiter weg von Dark und entfernte sich, bis sein Rücken die Wand berührte. Dann erwiderte er selbstsicher "Ja, ich weiß. Doch ich habe weder Angst vor deinem niveaulosem Schwert für Anfänger, noch vor dir! Du kannst mir gar nichts anhaben und bist geradezu in meine Falle gelaufen. Ich habe dich schon so lange gesucht. Ich wollte, dass du dafür bezahlst, ich wollte Rache, angefangen damit, dass ich deine erbärmlichen, armseligen Wentigos-Marionetten quäle. Du sollst sehen wie sie leiden und erst einmal einen Vorgeschmack davon bekommen, was ich mit dir machen werde. Glaub mir, du wirst dir noch wünschen, dass ich dich töte, damit es aufhört. Aber ich werde niemals damit aufhören, Astarot! Hast du gehört?! NIEMALS! Ich lasse keine Gnade walten und du wirst dafür büßen, was du ihnen angetan hast! Das verspreche ich. Es wird für dich die Hölle auf Erden werden!",schrie er Dark entgegen und holte danach tief Luft. Verbittert drehte er sich weg und ließ sich auf den Boden sinken. Dark schmunzelte nur amüsiert über Tyrons Worte. Auch er schien keine Angst zu haben. Ich wünschte, ich wüsste was hier los ist, doch ich konnte außer Zorn, Frustration, Wut, Schmerz und Verzweiflung nichts in Tyrons Gesicht deuten. Der Ausdruck in seinen Augen war starr, trostlos und doch irgendwie befreit. Als hätte er sein ganzes Leben nur darauf gewartet, Dark zu begegnen. Ich versuchte mich in der dunklen Ecke meiner Zelle zu verstecken, als Darks Blick zu mir huschte. Er kam auf mich zu und musterte mich dann von oben bis unten "Süß, die Kleine. Ist sie der Grund deines sinnlosen, erbärmlichen Daseins? Ist sie der Grund, warum du dich noch nicht umgebracht hast, sondern weiterlebst. Die gutmütige Freundin für den herzlosen Killer. Wie romantisch. Was machst du, wenn ich ihr etwas antue?", säuselte er vor sich hin. Tyron erklärte schnell "Sie hat nichts mit der ganzen Sache zu tun. Ich lebe, um dich zu töten. Die Einsicht, dass ich mich rächen kann, für alles was du uns angetan hast, lässt mich weiterkämpfen seit je her. Seit dem 8. November 2001. Für mich, der Anbeginn der Zeit. Seit diesem Tag hatte ich ein Ziel im Leben und danach kann kommen was wolle. Mein Auftrag, mein Lebenssinn ist mit deinem Ende erfüllt. Das ist etwas zwischen dir und mir. Lass sie aus dem Spiel. Sie ist unschuldig." Ich rechnete zurück, jetzt hatten wir 2015. 2001 war also vor vierzehn Jahren. Tyron war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Was war damals nur passiert? Was hatte ihn so gebrochen. Dark streckte auf einmal seine Hand nach mir aus und ich hörte Tyron brüllen "Fass sie nicht an oder-", mitten im Satz unterbrach Dark ihn "Oder was? Tyron versteh doch, du bist nicht mehr als eine lästige Fliege unter meinem Schuh. Du kannst mir nichts anhaben. Und du wirst auch nie im Leben, deine Rache an mir genießen können. Diese Genugtuung werde ich dir sicherlich nicht lassen. Ich bin noch lange nicht fertig mit dir. Erst töte ich deine Jägerfreundin und dann machen wir beide dort weiter, wo wir vor Jahren aufgehört haben. Na, was hältst du davon? Ich werde dir deine verdorbene, verlogene, ausgebrannte, leblose Seele eigenständig herausreißen!", drohte er mit unmenschlichem Tonfall und rückte immer näher an mich heran. Dann wechselte er in seine gigantische Schattengestalt und kam durch die Gitter, ohne sie aufschließen zu müssen. Als Schatten waren Wentigos wie Geister - mit dem einzigen Unterschied, dass Geister im Gegensatz zu Wentigos nicht real waren. Mein Atem wurde schneller, als mich Dark, mit seinem Schwert auf mich gerichtet, immer mehr in die Ecke trieb. Panisch und zugleich flehend sah ich Tyron an und warf ihm bittende Blicke zu. "Nein! Tu das nicht! Bitte nicht.", rief er und bekam dafür für einen Moment Darks Aufmerksamkeit. Dieser antwortete "So, so. Sie bedeutet dir also doch etwas." Tyron nickte entschlossen und meinte "Nimm mich. Es geht hier nur um uns. Du willst doch eigentlich nur mich. Sie interessiert dich doch gar nicht. Und Amara kann auch nichts dafür, was passiert ist, also lass sie ihn Ruhe." Dark lachte laut auf "Ja, ich weiß. Genau deshalb will ich sie doch töten. Weil sie dir etwas bedeutet. Wahrscheinlich ist sie sogar das Einzige in deinem Leben, was dir wichtig ist - und somit die einzige Chance wodurch, ich dich verletzen kann. Das muss ich doch ausnutzen. Sonst ist dir immer alles egal. Wenn ein Messer in deinem Körper steckt, ist es dir egal, wenn ich dir damit drohe dich zu töten, ist es dir auch egal. Ich habe herausgefunden, dass du keine Angst vor Schmerz oder dem Tod hast. Also kann ich dich nur damit verletzen, indem ich diejenigen töte, die dir wichtig sind und indem ich dich für ihren Tod verantwortlich machen kann. Denn wahrscheinlich würde sie noch leben, hätte sie einen anderen Jägerpartner gehabt." "Hey, sprich nicht von mir, als wäre ich schon tot.", funkte ich ihm dazwischen und versuchte Tyron irgendwie aus seiner psychischen Tiefphase zu holen, denn er sah bedrückt zu Boden und hatte schon fast aufgegeben - aber ich nicht. "Lass das Schwert fallen.", befahl ich, obwohl ich wusste, Dark würde darauf scheißen. Doch plötzlich schmiss er es unerwartet weg und sorgte für Verwirrung in meinem Kopf. Hatte er mir etwa eben gehorcht? Tyron rief mir zu "Mach weiter, Amara. Du hast die Macht über ihn." Ich sah ihn ungläubig an. Was meinte Tyron damit? War das unsere Chance zu fliehen? Vielleicht noch nicht aus Sombra, aber wenigstens aus diesem verfluchten Kerker. War das der erste Schritt in die richtige Richtung? Raus aus diesem Gefängnis und in die Freiheit?
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Wentigos - Wächter der Schatten *pausiert*
ParanormaleSeit sie denken kann, ist Amara dafür ausgebildet worden, Schattenjägerin zu werden, doch was wenn sie gar nicht dafür bestimmt ist und merkt, dass sie einige dunkle Geheimnisse verfolgen. Und dann trifft sie auch noch Tyron, einen Schattenwächter...