Der Klang seiner Stimme

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Wir stoppten an einer geräumigen, einigermaßen stabilen Halle, die noch nicht eingestürzt war und blieben am Eingang stehen. Der Mond glänzte silbern über den schiefen Dächern und ein sternenloser Nachthimmel nahm die Stadt ein. "Schlafen wir hier?", fragte ich Tyron unwissend. Er nickte und drückte die schwere Schallschutztür auf. Dann traten wir ein und ich ließ mich völlig fertig und übermüdet auf eine alte Matratze fallen, die in einer Ecke lag. "Das ist meine.", merkte Tyron an und deutete auf die Matratze. "Du bist echt kein Gentleman.", gab ich seufzend zurück und erhob mich langsam. "Nein, so war das nicht gemeint. Ich wollte sagen, dass die mir gehört. Vom letzten Mal als ich hier war. Aber du kannst sie haben.", erklärte Tyron. Ich hob belustigt die Augenbrauen und grub mein Gesicht in den weichen Stoff. Dann inhalierte ich den Geruch und nahm ihn mit tiefen Atemzügen in mir auf. Es roch eindeutig nach ihm. Der vertraute Geruch beruhigte mich und ich legte mich hin. Tyron ließ sich neben mir auf eine kleine Decke sinken und setzte sich dann aufrecht hin. Er musterte und beäugte prüfend seine verletzte Hand und schnaubte dann genervt. Seine Fingerrücken waren größtenteils aufgeschürft und voller blauer Flecken, als er die Hand umdrehte, erkannte ich triefende Brandwunden in seiner Handinnenfläche, die von heute stammen mussten. "Was ist passiert?", fragte ich schockiert, doch Tyron machte eine wegwerfende Geste und winkte ab "Nichts. Alles ist gut.", lenkte er davon ab und und schloss seine Hand dann wieder. Wo zur Hölle hatte er sich so verbrannt? Tyron sog scharf die Luft ein und ließ den Sauerstoff durch seine Lungen strömen und mit neuer Energie durchfluten, während ich in den Taschen meiner Rüstungsuniform herumkramte und einen Verband, sowie eine Packung Tabletten herausangelte. "Warte, ich helfe dir.", bot ich an und stand auf. Tyron schüttelte den Kopf, doch das hielt mich nicht auf. Stattdessen kam ich auf ihn zu und wickelte den Verband sorgfältig mehrere Male um seine verwundete Hand herum. Dann hielt ich ihm eine der Schmerztabletten hin. "Das Zeug, vernebelt nur meine Sinne und lässt mich weich und verletzlich werden.", gab er arrogant zurück. Ich rollte mit den Augen und legte mich wieder hin. Doch trotz meiner Müdigkeit, konnte ich nicht einschlafen. Nicht hier. Nicht in einer schäbigen, dreckigen Halle. Nicht auf Tyrons alter Matratze. Nicht in Sombra. Ich wollte einfach nur weg von hier.
Laute Geräusche weckten mich plötzlich, als ich Stunden später, doch noch eingeschlafen war. Tyron sprang sofort auf und lugte skeptisch durch die verschmutzen Fensterscheiben der Halle. Unerklärlicherweise schien er dennoch etwas erkennen zu können, denn er starrte gebannt nach draußen und stöhnte kurz auf, als er unpraktischerweise seine Hand vor Anspannung verkrampfte. Ich stellte mich neben ihn und Entsetzen machte sich in mir breit, als ich sah, was Tyron so fesselte. Mehrere Wentigos stachen da draußen mit Messern aufeinander ein. Nein, keine Messer, es waren Phönixklingen. "Sind das...?", setzte ich an, als Tyron mich unterbrach "Ja, sind es. Die Wentigos nehmen die Klingen mit, wenn sie einen Jäger getötet haben, aber ich wusste nicht, dass sie sie gegeneinander einsetzen.", erklärte er mit großem Staunen. "Wir müssen hier weg, bevor sie uns sehen. Was wenn sie hier rein kommen?", wandte ich panisch ein und duckte mich schnell, als ein Wentigos in unsere Richtung schaute. "Tyron, was tust du da?", schnauzte ich ihn an und zog ihn dann am Arm nach unten, damit sie ihn nicht entdeckten. Doch es war natürlich schon zu spät. Ich hörte das laute Zuknallen einer Tür, als sie hereinstürmten und danach trampelnde Schritte, die sich näherten. Na toll, wir waren geliefert. Das hier war eine Sackgasse. "Keine Angst, ich bring uns hier raus.", versuchte Tyron mich mit sanfter Stimme zu beruhigen. Die Schatten hatten uns noch nicht gesehen, es war also noch nichts verloren. Wir hatten noch eine kleine, unscheinbare Chance hier zu entkommen. Doch wir mussten sie nutzen und zwar jetzt. Tyron sprang auf einmal auf und machte mir unmissverständlich klar, dass ich jetzt abhauen sollte. "Hier her!", rief er durch die Halle und ein lautes Echo seiner männlichen, tiefen Stimme ertönte. Er lenkte die Wentigos ab, damit ich verschwinden konnte, doch ich würde ihn ganz sicher nicht hier zurücklassen. "Tyron, komm schon!", fehlte ich ihn aufgebracht und nervös an. Aber er hörte natürlich nicht auf mich. Was für ein Sturkopf! Ich nahm ihn am Arm und zog ihn dann mit mir, wir rannten zum Hinterausgang und ich beobachtete mit Entsetzen, wie die Wentigos Portale öffneten, um uns einzuholen. Wie aus dem Nichts, tauchte plötzlich einer vor uns auf und Tyron rammte sein Bein mit aller Kraft in die Magengrube des Wentigos. Er taumelte ein paar Schritte zurück und wir nutzten den Moment, um zu fliehen. Tyron hielt mir die Tür auf und wir stürmten gleichzeitig nach draußen. Dann rannten wir weiter und kamen schließlich am Ufer eines plätschernden Flusses an. Die Wentigos hatten uns aus den Augen verloren und wir waren vorerst in Sicherheit. Doch eine Frage brannte mir, schon seit Dark uns gefangen genommen hatte, ununterbrochen auf der Zunge. Ich musste sie einfach stellen. "Tyron, wieso bist du hier? Warum bist du nicht geflüchtet, als der Wentigos mich an Grenze 7 mitgenommen hat?" Ich sah ihn mit großen Augen und fragenden Blicken an. Er seufzte und legte seine Hände auf meine Schulter, doch diesmal ließ ich es zu. Dann antwortete er "Ich hätte entkommen können, aber das wollte ich nicht. Nicht ohne dich. Weißt du, ich hatte nie vor, dich zu verletzen oder in Gefahr zu bringen, das musst du mir glauben...aber als sie dich mitnahmen, wusste ich, dass ich dir helfen musste. Also bin ich auf den Wentigos losgegangen, aber er hatte Verstärkung dabei und sie haben mich dann auch gefangen genommen. Ich wünschte wirklich so sehr, ich hätte dich retten können. Nur einmal in meinem Leben, das Richtige zu tun...", seine Stimme versagte und der Satz ging ins Leere. Es tat ihm wirklich leid. Ich streichelte aufmunternd über seine unverletzte Hand und er zog mich zu ihm, nahm mich auf einmal fest in den Arm und umschloss meinen Körper. Seine Hände glitten an meine Taille und er strich sanft darüber. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und ich spürte seine langsamen Atemzüge auf meiner Haut. Ich sah ihm tief in die Augen, wieder wirkten sie so unendlich dunkel, wie ein Tunnel, der kein Ende nahm. Er zog mich noch ein Stück näher zu sich und presste seine muskulöse Brust an meinen Oberkörper. Sie war ganz warm. Ein paar Sekunden lang, konnte ich ihn einfach nur anstarren. Seine gold glänzenden Haare, die ihm wild ins Gesicht fielen, diese unbeschreiblich einladenden, perfekt geformten Lippen und dieses makellose Lächeln, das er mir schenkte, zogen mich in ihren Bann und faszinierten mich. Er war verdammt heiß und sah einfach unglaublich gut aus. Für einen Augenblick war ich nur von ihm gefesselt und er legte seinen Kopf an meinen. So standen wir eine Weile, einander umarmend da und ich genoss das Gefühl von Geborgenheit, Schutz und Wärme. Tyron hatte genau zwei Seiten. Die Seite in ihm, die so viel Kälte, Schmerz, Abweisung und Verachtung ausstrahlte, dass ich mir nicht vorstellen konnte, was er erlebt haben musste und was man ihm angetan hatte. Ich wollte es mir auch gar nicht vorstellen. Doch dann gab es noch etwas in ihm, das mir zeigte, wie einfühlsam und rücksichtsvoll er auch sein konnte, das mir behütende Wärme vermittelte und das war es auch in ihm, was mich in ein riesiges Gefühlschaos stürzte, meine Gedanken umeinander warf und mich nicht mehr klar denken ließ. Einerseits war er vielleicht ein Killer, ein Überlebenskünstler, der schon viel durchgemacht hatte und sich sicher schon am Rande der Verzweiflung befand und kurz vorm Aufgeben war. Ein Killer, dem es kein Hindernis war zu töten, der sich nicht davor scheute, Gewalt anzuwenden, um seine Ziele zu erreichen, doch andererseits konnte ich noch etwas ganz Anderes in ihm erkennen. Einen verlorenen Jungen, den man im Stich gelassen hatte, den man gebrochen, verletzt und und gefühlskalt gemacht hatte. Auf dessen Seele man so lange eingetreten hatte, bis sie beinahe zerbrach, einen Jungen, den man seinen größten Ängsten überlassen hatte, den man zerstört hatte, den man gelehrt hatte, wie viel Schmerz das Leben bringen konnte und dem man niemals Liebe zu spüren gegeben hatte - trotz alledem war er nicht daran zerbrochen, denn er war stark und gab nicht auf. Man hatte ihn nicht bemüttert, ihm beim Hinfallen aufgeholfen oder ihm gezeigt, was Zuneigung war - und dennoch konnte er es: lieben. Tief in ihm, hatte er eine Seele und Gefühle, ich sah es genau, doch er wollte sie nicht zeigen, weil er Angst hatte, man würde ihn wieder verletzen. Ich wusste nicht genau, was er erlebt hatte, doch ich wusste, es war schlimm gewesen und es war hier in Sombra geschehen und trotzdem kam er noch einmal hierher zurück. An den Ort des Grauens, nur um mich zu retten, obwohl er mir nichts schuldig war. Ich hatte noch nie einen Jungen getroffen, der so mutig und stark war, all das durchzuhalten, aufzustehen und danach noch weiterzukämpfen.

Er war so viel mehr, als nur ein Killer mit Herz - für mich war er ein Held.

Mein Held.

Wentigos - Wächter der Schatten *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt