Nicht mehr, als ein skrupelloser Killer

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"Hör auf!", flehte ich Tyron an, doch er war wie besessen. Besessen davon zu töten und ich konnte ihn durch nichts aufhalten. Wie gelähmt sah ich zu, wie das Blut aus seinem Hals rann und seinen Lauf nahm, bis das Shirt des Jungen beinahe vollständig mit seinem eigenen Blut durchtränkt war.
Ich hatte keine Wahl, ich konnte einfach keinen anderen Ausweg am Ende dieses düsteren Tunnels sehen. Es gab nur eine Lösung, nur einen einzigen Weg, wie ich Tyron jetzt noch aufhalten konnte.

Dieser eine Gedanke und die Panik in mir, die sich immer weiter wie ein schwarzes Loch in meinem Inneren ausdehnte, waren es wahrscheinlich, die mich dazu verleiteten zu handeln, ohne groß darüber nachzudenken. Ich konnte das nicht zulassen! Wenn Tyron mit so vielen Morden, die auf sein Konto gingen, leben konnte - von mir aus! Vielleicht war er es gewöhnt, aber ich wollte nicht, dass das Blut eines unschuldigen Kindes an meinen Händen klebte.
Und genau aus diesem Grund griff ich nach dem scharfkantigen Stein, der vor meinen Füßen lag und schlug ihn Tyron mit aller Kraft, die ich noch ansammeln konnte, gegen den Hinterkopf. Er stöhnte mit schmerzverzerrter Stimme auf, doch gleich darauf verlor er schon das Bewusstsein und kippte um.

Ich ließ sofort den blutverschmierten Stein zu Boden fallen und fing Tyron auf, der ohnmächtig in sich zusammen sank. Dann legte ich ihn ab und wandte mich dem Jungen zu. Das Blut strömte immer noch aus seiner Kehle und ich versuchte die Blutung irgendwie zu stoppen, indem ich meine Hände auf die Wunde presste.
Doch das hätte ich mir auch sparen können, denn es half uns überhaupt nichts. Der Junge spuckte bereits Blut und schnappte hysterisch nach Luft, seine Augen waren vor Angst geweitet und er krallte seine Finger vor Anspannung in meine Schulter. Ich war keine Ärztin, ich konnte ihm nicht helfen, nicht ohne die nötigen Sachen, die ich dafür brauchte. "Gibt es hier ein Krankenhaus in Sombra?", fragte ich aufgewühlt, denn ich wusste, dass uns die Zeit davonlief.
Der Junge nickte nur heftig mit dem Kopf, er war nicht fähig dazu etwas zu sagen. "Wo?", wollte ich wissen und nahm den Jungen in meine Arme, um ihn dann hochzuheben und dorthin zu tragen. Doch stattdessen bekam ich keine Antwort mehr. Als ich ihn wieder behutsam ablegte, hatte er aufgehört nach Luft zu ringen und seine Augen waren geschlossen. Nein, rief eine Stimme in meinem Kopf und ich presste mein Ohr an seinen kleinen Oberkörper. Nichts bewegte sich, kein Geräusch war zu vernehmen. Nur Stille. Er atmete nicht mehr und sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Er war tot.
Tyron hatte also doch noch sein Ziel erreicht. Der Kleine war seinetwegen tot, er hatte ihn umgebracht! Das würde ich ihm niemals verzeihen!
Ich spürte auf einmal wie meine Wangen nass wurden, ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich zu weinen begonnen hatte. Doch das war mir im Moment egal! Es war sowieso niemand hier, der mich so sehen konnte, abgesehen von dem bewusstlosen Tyron, den ich am liebsten umgebracht hätte, für das, was er diesem Kind angetan hatte.
Meine Tränen bahnten sich ihren Weg nach unten und fielen zu Boden, wo das Gras noch immer blutrot war. Ich lehnte mich über den leblosen Körper des Kleinen und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann flüsterte ich ihm kaum hörbar zu "Es tut mir so Leid." Ich wusste noch nicht einmal, wie sein Name war. Das würde aber sowieso nichts ändern. Tyron zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als er scharf nach Luft zog und mein Blick huschte schnell zu ihm herüber. Augenblicklich fasste er sich alarmiert an den Hinterkopf und hielt sich dann seine mit Blut beschmierten, roten Fingerspitzen vors Gesicht. Dann sah er mich vernichtend an und presste die Lippen vor Wut fest aufeinander. Er stöhnte kurz qualvoll auf, als er aufstehen wollte und ließ mich keine Sekunde aus den Augen "Verräterin!", zischte er abfällig und ich beobachtete, wie er versuchte unauffällig seine Umgebung zu analysieren. Als er die Leiche des Jungen ein paar Meter entfernt, entdeckte, schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht. "Du Psychopath! Du herzloser Killer! Was hast du nur getan?! Ich hasse dich! Hast du das verstanden?! Merk dir diese Worte, ich will, dass du niemals vergisst, was du getan hast! Ich dachte ernsthaft, dass du mein Retter bist und mir aus Sombra helfen könntest, doch in Wahrheit bist du der Böse. Ich hätte nicht vor den Wentigos flüchten müssen, sondern vor dir! Du bist der Feind! Ein sadistischer, soziopathischer, selbstgefälliger Arsch!", brüllte ich ihm entgegen. Ich konnte mich einfach nicht mehr zusammenreißen und meine Wut zurückhalten. Er sollte ruhig wissen, was für ein Abschaum er war und wie erbärmlich ich ihn fand. Keine Sekunde bereute ich den Schlag auf seinen Hinterkopf. Er hatte es sowas von verdient.

Als er nicht antwortete, fügte ich ironisch hinzu "Aber du hast dein Ziel ja erreicht. Ich gratuliere. Bist du jetzt zufrieden, nachdem du ein armes Kind getötet hast? Sag es mir, hast du das gebraucht?! War das nötig?!", noch immer schrie ich meine Worte in sein Gesicht und löste diese unerträgliche Stille, die den Wald umgab, auf. Er schwieg mich weiterhin an. Was für ein Feigling! Jetzt konnte er noch nicht einmal zu seinen grauenhaften Taten stehen, sondern machte einen auf unschuldig. Mit weinerlicher, leiser Stimme diesmal, meinte ich "Ich war so naiv und dachte du willst mir helfen und, dass ich dir vertrauen könnte...aber ich konnte einfach nur nicht einsehen, was du wirklich bist. Ein Mörder. Und mehr wirst du auch nie sein. Das hätte mir schon an der Grenze klar werden müssen, als du unsere Leute sterben lassen hast und es dir wieder einmal wichtiger war Wentigos zu quälen und zu töten. So wie jetzt auch. Du wirst Gewalt immer der Gerechtigkeit vorziehen. Manche Menschen kann man nicht ändern, weil sie es einfach nicht wollen - sie wollen böse sein. Und zu diesen Menschen gehörst auch du.", mit diesen Worten stand ich auf und ging.

Ich hatte keine Ahnung wohin, ich wusste nur eines: Hauptsache weg von ihm! Diesem furchtbaren Menschen konnte ich einfach nicht länger in die Augen sehen. Jedes Mal erinnerte es mich nur daran, was er getan hatte. Aber das war ja noch nicht einmal das Schlimmste daran. Das was mich wirklich so fertig machte, war die klare Erkenntnis und Tatsache, dass er es nicht bereute. Nichts von alledem. Es war ihm einfach scheißegal.

Ich lief immer weiter, wusste nicht was ich tun und wohin ich gehen sollte, doch das interessierte mich nicht. Denn ich wollte einfach nur weg von dieser Hölle und in Sicherheit sein. In Sicherheit vor Tyron. Ich konnte deutlich spüren, dass ich Angst vor ihm hatte, vor dem, wozu er fähig war und, dass ich bei dem Gedanken an ihn, anfing zu zittern.

Scheiße! Ich musste mich jetzt irgendwie wieder unter Kontrolle bringen und einen klaren Kopf bekommen für das, was mir unmittelbar bevorstand. Denn ab jetzt, so wurde mir auf einmal klar, war ich völlig auf mich allein gestellt. Tyron war der Einzige, der wusste, wie wir hier rauskommen konnten, der Einzige an dem ich mich orientiert hatte, doch ich wollte auf keinen Fall umkehren und bei ihm um Hilfe betteln. Niemals! Ich würde das schon allein schaffen, so wie sonst auch. Ich war nicht hilflos, ich hatte gelernt mit solchen Situationen umzugehen, doch jetzt schien es, als wären all die Jahre des Trainings umsonst gewesen, denn ich hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen sollte und ich war gerade auch nicht nur psychisch am Ende, sondern auch körperlich. Alles an mir zitterte, als wäre ich auf Entzug, mir war schlecht, schwindelig, alles in meinem Kopf drehte sich und ich war außerdem so müde, dass ich kaum noch geradeaus laufen konnte. Meine Beine taten mir unheimlich weh und es war kein Wunder, als ich nach einer Weile zusammenbrach und einfach nur erschöpft am Boden liegen blieb.

Die Stimmen um mich herum, die immer näher kamen, verstand ich nur noch in Bruchstücken und mein Sichtfeld verschwamm in der Dunkelheit der sternenlosen Nacht.
Alles wurde in vollständige Schwärze getaucht.

Wentigos - Wächter der Schatten *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt