Verhör

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Als ich aufwachte, hörte ich laute Stimmen um mich herum. Fremde Stimmen. Deshalb ließ ich meine Augen zur Sicherheit geschlossen, sie sollten nicht mitbekommen, dass ich wach war und darum musste ich versuchen, mich mit meinen anderen Sinnen zu orientieren.

Der Boden unter mir war hart und kalt, das Einzige was ich hörte, waren Unterhaltungen, die ich nicht verstehen konnte, da es eine andere Sprache war. Die Sprache der Wentigos. Verdammt! Jetzt wusste ich ja, wer mich mitgenommen hatte. Und vor allem wo ich war. In dem Kerker aus dem ich vor Kurzem noch mit Tyron geflohen war. Ich stand also wieder am Anfang, aber diesmal allein.

Ich spürte, wie sich jemand neben mich beugte und mir ins Ohr flüsterte "Ich weiß, dass du wach bist, Amara."
Eine Frauenstimme. Sie hatte Recht, deshalb öffnete ich die Augen und meine Vermutung bestätigte sich. Ich war tatsächlich wieder eingesperrt. Die Frau sah mich aus ihren strahlend blauen Augen an, sie war vielleicht ungefähr fünf Jahre älter als ich. Sie zwang sich zu einem Lächeln, was ihr ziemlich miserabel gelang, dann nahm sie mich am Arm und zog mich hoch "Wir müssen reden.", erklärte sie in strengem Tonfall und führte mich in einen Raum, der völlig leer war, abgesehen von einem kleinen Stuhl, der in der Mitte stand. "Worüber?", fragte ich trotzig und blieb stehen. "Über deinen Freund.", entgegnete sie knapp und deutete auf den Stuhl. "Setz dich!", befahl sie, doch anstatt ihrem Befehl nachzugehen, meinte ich "Wenn es um Tyron geht, dann musst du wissen,...er ist nicht mein Freund.", verteidigte ich mich und nahm erst dann Platz. Die Fremde kam auf mich zu und während sie meine Hände an die Stuhllehne fesselte, entgegnete sie gleichgültig "Ist mir egal, wer er für dich ist. Du musst nur ein paar Fragen beantworten." "Und welche?", hakte ich fordernd nach und hob eine Augenbraue.

Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und baute sich vor mir auf, als hätte ich vor, abzuhauen. Dabei hatte sie mich doch eigenhändig festgebunden. Dann antwortete sie "Wo ist er?" "Wieso ist das wichtig?", stellte ich die Gegenfrage und fügte dann hinzu "Ich dachte eine Geisel reicht euch." Mein Widerstand war wohl keine gute Idee, denn die Frau kam plötzlich auf mich zu und stoppte mit ihrem Messer haarscharf vor meinem Auge. "Also...wenn du deine Augen behalten willst und wenn dir auch deine restlichen Körperteile am Herzen liegen, solltest mir jetzt genau zuhören: Provoziere mich nicht, stell mir keine unnötigen Fragen und antworte einfach. Dann kommst du in einem Stück hier raus. Okay?", drohte sie mir mit zischender Stimme. Sie meinte das wirklich ernst. Deshalb befolgte ich ihren Rat und erwiderte "Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Unsere Wege haben sich getrennt und das soll auch so bleiben." Daraufhin musterte sie mich kritisch und versuchte herauszufinden ob ich sie anlog oder die Wahrheit sagte. Dann erweiterte sie ihre Frage "Und wo hast du ihn das letzte Mal gesehen?"
Ich brach mit dem nächsten Satz ihre Regel und fragte "Wieso willst du das wissen?" Zu meiner Überraschung landete ihr Messer nicht in meinem Gesicht und sie antwortete mir sogar "Weil wir ihn töten wollen und dasselbe werden wir mit dir machen, wenn du mir nicht sofort sagst, wo er ist!" Ich schluckte und wagte es noch einmal zu fragen "Warum willst du ihn töten?" Doch dieses Mal war sie nicht mehr so geduldig mit mir und ich schrie laut auf, als sie mir ihr Messer in den Oberschenkel rammte. "Rede!", brüllte sie mir entgegen und verzog dabei keine Miene. "Ich weiß nicht.", griff ich ihre Frage von vorhin auf und log ihr dabei ins Gesicht. "Du lügst!", zischte sie und schob das Messer noch ein Stück tiefer in meinen Körper. Ich gab ein gequältes Stöhnen von mir und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Dann versuchte ich sie vom Gegenteil zu überzeugen und legte einen ernsten Gesichtsausdruck auf, der meine Lüge überdecken sollte "Nein. Ich sage die Wahrheit...ich hab keine Ahnung wo ich ihn das letzte Mal gesehen habe, das Einzige was ich weiß ist, dass ich aus der Richtung gekommen bin, wo er war. Weil ich weg von ihm wollte! Deshalb bin ich in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Und das ist alles, was ich weiß."

Die Frau schien mir endlich zu glauben und durchlöcherte mich weiter mit Fragen "Und wieso genau wolltest du weg von ihm? Ist etwas vorgefallen?", wollte sie wissen und versuchte dabei ihre Neugierde zu verstecken und die Tatsache, dass sie das wirklich sehr interessierte. "Ja, das kann man so sagen. Er hat ein Wentigoskind getötet, das uns nichts getan hat.", gab ich zurück und verstand nicht, was daran so witzig war, da die Frau auf einmal laut loslachte. "Muss ich das jetzt irgendwie nachvollziehen können?", fragte ich nur voll Ironie und verdrehte die Augen. "Es ist nur, dass ich genau so etwas von ihm erwartet habe. Er war einfach schon immer ein kaltblütiger Mörder. Das ist typisch für ihn. Wenigstens hast du bei dieser einen Sache nicht gelogen.", erklärte sie und schmunzelte dabei. "Ihr beiden kennt euch?", hakte ich neugierig nach und wartete insgeheim auf ein weiteres Messer in meinem Bein. "Oh ja, wir kennen uns. Leider.", meinte sie und wirkte ziemlich unprofessionell, als sie plötzlich wissen wollte "Und du? Kennst du Tyron schon lange? Liebst du ihn oder warum nimmst du ihn in Schutz und sagst uns nicht, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufhält? Muss er noch mehr Kinder umbringen, damit du verstehst, dass er aufgehalten werden muss?" Ich sah sie verständnislos an und gab zickig zurück "Nein, ich liebe ihn nicht. Ganz im Gegenteil - ich hasse ihn. Und ich nehme ihn auch nicht in Schutz. Wenn ich wüsste wo er ist, würde ich es sagen. Aber wie schon erwähnt - ich weiß nichts." "Dann sind wir schon zwei. Ich hasse diesen Mistkerl ebenso und es wird mir ein Vergnügen sein, ihn an König Dark auszuliefern.", meinte sie lächelnd. "Du wirst ihn nicht selbst töten?", wollte ich mich vergewissern und die fremde Frau entgegnete nur "Leider bin ich nicht die Einzige, die ein persönliches Problem mit ihm hat. Auch Dark will ihn hängen sehen, natürlich erst, wenn er mit ihm fertig ist."
Ich wurde immer neugieriger und wollte so viele Infos wie möglich haben "Was heißt das: wenn er mit ihm fertig ist?" "Das bedeutet, dass er sich den Tod, also seine Erlösung erst verdienen muss. Als allererstes wird Dark ihn bestrafen und für all seine Taten büßen lassen, weil der Tod eigentlich viel zu gnädig für diesen Jungen ist.", erklärte sie mir. "Warum hasst du ihn so sehr? Ich meine...ich hasse ihn auch, aber ich würde nicht wollen, dass er stirbt oder, dass man ihm wehtut.", gab ich zu und sah ihr in ihre eiskalten, gefühlslosen Augen, deren Kälte mich an Tyron erinnerte. "Wie schon gesagt - er ist ein Mörder. War er schon immer.", mit diesen Worten ließ sie mich praktisch weiterhin im Dunkeln und warf nur noch mehr Fragen auf und sprach in Rätseln, die ich nicht verstand. Das Einzige, was ich aus dieser Antwort entschlüsseln konnte, war eine weitere Frage, die sich mir dadurch stellte und sie platzte einfach so aus mir heraus, ich konnte sie nicht länger zurückhalten auch, wenn das ziemlich taktlos von mir war "Hat Tyron jemanden getötet, der dir wichtig war oder den du geliebt hast?"

Plötzlich wurde es ganz still und die Frau drehte sich schnell weg von mir, als sie merkte, wie ihre Augen zu glänzen begannen, weil sich immer mehr Tränen ansammelten, die sie versuchte aufzuhalten. Doch von der Seite aus konnte ich erkennen, dass ihr dies nicht gelang und ich sah, wie das Wasser schließlich überschwappte und die vielen salzigen Tränen ihre Wangen benetzten. Daraufhin flüchtete sie aus dem Raum und ließ mich hier drin zurück. Allein.

Doch ich kannte nun die Antwort: Ja, Tyron hatte jemanden getötet, den sie liebte, vielleicht sogar mehrere.
Und ohne es zu wollen, konnte ich den Hass verstehen, der sie antrieb und wuchs und immer größer wurde. Ich konnte auch verstehen, dass sie Rache und Vergeltung wollte, doch trotzdem würde ich Tyron niemals verraten. Stattdessen redete ich mir ein, dass er bestimmt seine Gründe hatte. Aber würde das etwas ändern?
Wahrscheinlich nicht.

Der Grund für einen Mord war egal, vor einem Richter zählte nur die Tat. Deswegen war ich froh, keine Richterin zu sein, sondern nur eine hormongesteuerte, kleine Jägerin mit einem viel zu großem Herzen.

Wentigos - Wächter der Schatten *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt