5. Kapitel

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Mein früherer bester Freund lächelte. „Wer als erstes bei unserem alten Klassenraum ist", rief er, war dann aber längst losgelaufen.

„Was? Aber ich weiß ja nicht mal ...", wollte ich protestieren, doch meine Beine hatten ein gänzliches Eigenleben entwickelt und rannten ihm nach.

Meine Lungen brannten, als ich ihn schlussendlich einholte, wenn auch knapp zu spät. Mein Herz hatte intuitiv den Ort gefunden, an dem wir so viel Zeit nebeneinander verbracht hatten. An einem Tisch. Kichernd und selten den Worten des Lehrers lauschend.

„Hey, das war wirklich nicht fair. Vor allem weil du viel größere Schritte machen kannst als ich und Sportler bist."

„Ja, genau", er lachte schief.

Wir betraten einen Saal, den ich unter hunderten wohl wiedererkannt hätte. Es waren exakt die gleiche Tafel, dieselben Stühle und Tische. Ich zog ihn mit mir. Zu einem der hintersten Plätze im Raum. Prüfend ließ ich meine Augen über die Tischplatte huschen. Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf meinen Lippen aus. Irgendwie hatte ich gedacht, dass das längst beseitig worden war. Damals hatte ich nicht gewusst, dass man so etwas eigentlich nur dann machte, wenn man verliebt war oder zumindest hatte ich nie darüber nachgedacht. Dass das so etwas wie eine Tradition unter Paaren darstellte. Wir hatten kein Herz darum gezogen. Es war nur rein freundschaftlich gemeint gewesen und Jackson hatte auch nie etwas in der Richtung gesagt. Aber er hatte das damals eingeritzt. 

„Erinnerst du dich daran?"

Er schaute über meine Schulter. Dabei schmiegte sich seine Brust in meinen Rücken und bescherte mir eine wiederholte Gefühlsexplosion. Beruhigend war, dass ich durch den dünnen Stoff seines Shirts nicht nur die Hitze spüren konnte, die von ihm ausstrahlte wie von der Sonne, sondern auch seinen beschleunigten Herzschlag. „J und A", las er laut vor. „Wie könnte ich das vergessen? Mr. Gallagher hätte uns wohl am liebsten umgebracht, als er das gesehen hat."

„Gut möglich." Ehe ich mich davon abhalten konnte, lehnte ich mich an ihn. Jackson legte von hinten seine Arme um mich. Die Hände auf meinem Bauch miteinander verwoben. Während sein Kopf auf meinem lag, wiegte er mich sanft hin und her, als würden wir zu einem unhörbaren, langsamen Song tanzen. Es war einfach verrückt. Vollkommen verrückt und doch war da diese Nähe, diese Zuneigung und Vertrautheit, die ich nur bei ihm empfand und bei keinem anderen sonst.

„Möchtest du auf das Dach? Unseren heimlichen Rückzugsort? Ich habe es geliebt dort stundenlang mit dir zu sitzen."

„Ich auch", flüsterte ich, wandte mich so zu ihm um, dass ich mich in seinen strahlenden Augen verlieren konnte. Etwas, was mir schon immer viel zu leichtgefallen war.

Die anfängliche Unsicherheit ihm gegenüber, nachdem ich ihn so lange Zeit nicht mehr gesehen hatte, war wie weggeblassen. Und hinterließ nicht mehr, als die unleugbare Zuneigung zum jeweils anderen. In seinem Gesicht stand etwas Ähnliches geschrieben, bei dem ich mir einbildete ganz genau zuordnen zu können, was das für die Zukunft bedeuten sollte.

Hand in Hand bahnten wir uns unseren Weg durch die Gänge, als wären wir niemals fort gewesen. Als wären wir immer noch unser jüngeres Ich, welches diese Hallen, Flure und Gänge wie die linke Westentasche gekannt hatte. Jackson zog die Feuerleiter in der Abstellkammer hinunter, über die wir auch damals schon immer den Zugang zum Dach erlangt hatten.

Der eiskalte Wind, der hier oben noch stärker zur Geltung kam als unmittelbar am Boden, brachte meine Augen zum wiederholten Male zum Tränen. Auch Jackson peitschte die Prise so sehr ins Gesicht, dass sein kurzes Haar in Windeseile so aussah, als wäre er gerade einen Sprint gelaufen. Dennoch verharrte seine Jacke auch weiterhin über seinem Arm und nicht am Körper.

Aus dem Backsteinkamin quollen gräuliche Wolkenschwadrone hervor. Normalerweise war eben das unser Lieblingsplatz im Winter gewesen, denn die Abwärme strahlte bis auf die Steine durch, doch heute trieb es uns weiter. An den Rand des Daches.

Kaum dass ich mich gesetzt hatte, zog ich Jacksons Schal noch fester um meine Schultern, welcher mir trotz allem nicht genug Wärme schenken wollte. Doch jetzt in diesem Augenblick mit ihm hier zu sitzen, wie wir es immer getan hatten, war mir das Bibbern wert.

Meine Beine hingen ein ganzes Stück weiter in die Tiefe als damals und doch war ich seitdem genau genommen nicht mehr viel gewachsen. Jackson hingegen schon. Verstohlen linste ich zu ihm hinüber. Er sah hier so lächerlich fehl am Platz aus. Mit seinen ewig langen Beinen und den breiten Schultern. Als hätte der Regisseur keine unpassendere Besetzung für seine Rolle finden können.

Das musste von unten verdammt lustig aussehen. Wie zwei erwachsene Menschen auf dem Dach einer Schule saßen und ihre Beine baumeln ließen. Schließlich breitete er ohne Kommentar seine Jacke über meinen Oberschenkeln aus, sodass ich sie wie eine Decke verwenden konnte. Ihm war nie entgangen, wenn ich etwas gebraucht hatte.

Meine Zunge schnellte hervor und ich begann, einige der dicken Schneeflocken damit aufzufangen. Etwas, was wir oft zusammengetan hatten. Jackson beobachtete jede meiner Bewegungen. Es war überdeutlich, dass er ähnlich der Vergangenheit nachhing wie ich es tat. Wir schwiegen eine ganze Weile, doch als ich genügend Schneeflocken gesammelt und schmelzen gelassen hatte, ließ ich meinen auf einmal viel zu schweren Kopf seufzend an seine Schulter sinken. Er rührte sich keinen Millimeter. Schon immer war er wie mein Fels in der Brandung gewesen. Beschützend legte er einen Arm um mich. Ich konnte nicht verhindern, mich noch mehr an ihn zu schmiegen. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich noch näher an ihn gerückt. Alleine schon deswegen, weil er eine unnormale Hitze ausstrahlte und das, obwohl er immer noch lediglich dieses vermaledeite Shirt trug. Doch ein schielender Seitenblick bewies erneut, dass eine Gänsehaut nicht in der Lage war seinen Körper zu vereinnahmen. Absolut verrückt.

„Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß", gestand ich ihm und wagte es dann doch eine meiner Hände auf seinen unteren Bauch zu legen. Für einen klitzekleinen Augenblick konnte ich spüren, wie er sich unter dieser Berührung anspannte, doch dauerte es nur einen Wimpernschlag, ehe er zufrieden seufzte. Ich hatte ihn überrascht. Selbst durch den Stoff fühlte ich die warme, mit starken Muskeln durchzogene Haut unter meinen Fingerspitzen. Die Vibration des starken Baritons, die das Seufzen ausübte, war deutlich wahrzunehmen.

„Ich auch nicht. Es ist echt schön, dass wir endlich mal wieder Zeit miteinander verbringen."

Schön war für mich wohl noch die Untertreibung des Jahrhunderts. Mir fielen auf Knopfdruck hunderte andere Umschreibungen dafür ein, die noch besser gepasst hätten.

„Was hast du eigentlich in der Tankstelle gemacht? Ich hatte nicht den Eindruck, dass du wegen dem Bier gekommen bist." Das hatte ich mich schon mehrfach gefragt, seit wir zusammen unterwegs waren. Doch als Jackson nicht gleich antwortete, verrenkte ich meinen Hals, um zu ihm nach oben sehen zu können.

„Wo wir es doch gerade davon haben: Möchtest du noch eins?"

Ich verneinte, doch er machte sich das nächste zischende Bier auf. „Jetzt lenk nicht ab, Jackson."

Ertappt nahm er einen großen Schluck, ehe er antwortete. Etwas Jungenhaftes war prompt wieder überdeutlich aus seinen Zügen abzulesen. „Ich habe dich durch unser Fenster im Wohnzimmer vorbeilaufen sehen und bin dir gefolgt", gestand er so nüchtern, dass ich grinsen musste.

„Du elender Stalker", scherzte ich. Mir war nicht einmal bewusst aufgefallen, dass mich mein Weg zur Tankstelle automatisch an seinem Elternhaus vorbeigebracht hatte. Dafür musste dann wohl mein Unterbewusstsein verantwortlich gewesen sein.

„Schuldig im Sinne der Anklage. Behaupte jetzt aber nicht, dass du dich nicht darüber gefreut hast."

„Das würde ich nie. Ich bin froh, dass du es getan hast."

Gas Stop (Short Story) #NewAdultRomance [abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt