6. Kapitel

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Auf dem Dach der Schule hatte ich endgültig jeglichen Sinn für Raum und Zeit verloren. Es hätte sich um wenige Minuten, aber auch zahlreiche Stunden handeln können. Schon seit einer halben Ewigkeit hatte ich mich nicht mehr so jung gefühlt und dass, obwohl ich erst Anfang zwanzig war. Schon ein wenig traurig eigentlich. Mittlerweile fühlte ich kaum noch meine Zehen und dennoch würde ich rein gar nichts an den letzten Stunden mit diesem Mann an meiner Seite ändern wollen, selbst wenn ich könnte. Das Einzige, was ich am liebsten wieder und wieder verändert hätte wäre, dass wir uns auf dem Weg zu meinem Familienhaus befanden. Jackson brachte mich ganz der Gentleman der er war zurück.

Unsere Finger waren so eng miteinander verwoben, dass es sich wie eine Verlängerung meines eigenen Armes anfühlte. Ich wollte nicht, dass er mich jemals wieder losließ. Ich wollte nicht, dass er jemals wieder ging. Was taten wir hier bloß? Ich wohnte ja nicht einmal mehr in Stowe. Wie sollte das gehen, wenn sein Leben hier und meines in New York stattfand? Andererseits lag die Metropole nicht so weit weg, wie ich mir ganz gerne immer zurechtgelegt hatte. Und ich wusste ja nicht einmal genau, was Jackson darüber dachte. Möglicherweise sah er das alles vollkommen anders und das alles war nur eine verblendete Realität. Nichts Unübliches für mich.

„Hier, deine Jacke", sagte ich. Er hatte sie mir vorhin einfach überlassen. Ich musste mit den zwei Jacken aussehen wie ein Pinguin, doch seltsamerweise kümmerte mich das nicht mehr. Ich begann schon aus den Ärmeln zu schlüpfen, als er mich aufhielt, indem er seine großen Pranken auf meine Schultern legte.

Jackson schüttelte den Kopf. „Nein, behalte sie. Du kannst sie mir morgen zusammen mit dem Schal vorbeibringen", meinte er und sah mir dabei fest in die Augen, doch mich konnte er nicht täuschen. Da war noch etwas anderes. Etwas, was ich ebenfalls spürte – Unsicherheit. Jackson sprühte nur so vor Selbstbewusstsein, doch in dieser Sekunde kam ganz deutlich der Junge von früher zum Vorschein, der sich noch ein bisschen weniger getraut hatte, als sein erwachsenes Ebenbild. „Ich meine ... wenn du das möchtest."

Ich nickte. „Das wäre schön."

Da war es wieder. Dieses seltsame Wort, was man immer dann verwendete, wenn man nicht wusste, was man sonst sagen sollte. Schön. Wer hatte das überhaupt erfunden? Die guten alten Zeiten mit Jackson wieder aufleben zu lassen war nicht schön gewesen. Oh nein. Es war so viel mehr als das und eben das erschreckte mich. Doch wenn eines feststand, dann das: Ich wollte es. Genau jetzt. Genau hier. Wir würden schon sehen, was die Zukunft brachte. Für den Augenblick wollte ich im Moment leben. Etwas, was ich mir schon immer vorgenommen, aber mich letzten Endes nie getraut hatte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, umarmte ich ihn, schlang meine Arme so fest ich nur konnte um seine Mitte. Sog seinen Duft in mich ein, als wäre es das letzte Mal, dass ich die Chance dazu hatte. Lauschte seinem hektischen Herzschlag, der sich dem Rhythmus meines eigenen anpasste. Genoss seine Wärme und das uneingeschränkte Gefühl der Geborgenheit, welches nur er mir geben konnte.

„Ich habe dich mehr vermisst, als ich mir eingestehen wollte. All die Jahre ... Was ist zwischen uns passiert, Jackson?", hauchte ich und wusste selbst nicht so recht wohin mit mir.

„Wir sind Erwachsen geworden. Erwachsene tun manchmal dumme Dinge, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte. Aber Fehler sind nicht für die Unendlichkeit, Allie. Wir selbst können entscheiden, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen."

„Wann bist du bloß so verdammt weise geworden?", zog ich ihn auf.

Doch als dieser wölfische Ausdruck zurück in seine Augen trat, konnte ich schlichtweg nicht länger an mich halten. Ich krallte mich in sein Shirt. Parallel wanderten seine Hände unter seine Lederjacke, die unverändert um meinen Körper geschlungen war. Wir begegneten uns auf halber Streckte. Seine Lippen so warm, voll und lebendig, während meine eher einer Eiswand glichen. Ich konnte spüren, wie er in unseren Kuss hineinlächelte. Verdenken konnte ich es ihm nicht, schließlich zog er sich durch mich eine Unterkühlung dritten Grades zu. Fast bereute ich es ihn zu küssen – fast.

„Weißt du eigentlich, wie lange ich das schon tun wollte?" Seine Worte waren kaum hörbar und dennoch verstand ich die Bedeutung dahinter. Abermals gab er mir einen langatmigen Kuss, ehe er mich noch fester an sich zog. Meinen Rücken liebkoste. Zufrieden ausatmete.

„Weißt du eigentlich, wie lange ich schon in dich verknallt bin?", konterte ich. Mein Herz donnerte in meiner Brust. So, jetzt war es raus. Zu meiner großen Überraschung lachte Jackson nur. Erleichtert, aber er lachte.

„Wieso haben wir uns nicht mal eher getraut, Allie?"

„Ich dachte immer, dass du mich ... nicht auf diese Weise magst. Ich wollte unsere Freundschaft nicht zerstören, auch wenn ich das im Endeffekt doch getan habe."

Jackson löste sich von mir, legte seine Hände um mein Gesicht und strich liebevoll mit den Daumen über meine Wangen. „So ging es mir mit dir. Ich wollte immer nur dich, Allie. Du bist so wunderschön. Das warst du damals schon."

Wieder trafen unsere Lippen aufeinander, doch dieses Mal nicht mehr mit der Zurückhaltung, die wir gerade miteinander geteilt hatten. Dieser Kuss war intensiver, feuriger. Als würde unser Leben davon abhängen. Und als wir dieses Mal gerade so viel Abstand zwischen uns brachten, dass wir einander in die stürmischen Augen schauen konnten, atmeten wir beide schwerfällig.

„Wir sehen uns morgen? Rosies Diner, so wie immer?"

Ich nickte, auch wenn ich nicht bis zum nächsten Tag warten wollte, bis wir das hier wiederholen konnten. Ich hatte viel zu lange darauf gewartet – auf ihn. Auf den Mann, den ich schon immer in meinem Leben haben wollte und den ich niemals hätte gehen lassen dürfen.

„Frohe Weihnachten, Allie."

„Frohe Weihnachten, Jackson."

Er winkte zum Abschied. Das breiteste Lächeln im Gesicht, welches ich jemals bei ihm gesehen hatte. Ich musste nicht anders aussehen.

Kaum, dass ich mich zum Haus umdrehte, sprang die Tür auf. Hatte ich es mir doch nicht eingebildet, dass die Vorhänge hinter den Fenstern sich mehrfach bewegt hatten, als ich mit ihm hier draußen gestanden hatte.

„Oh, Allie!", rief meine Mum entzückt, schlug beide Hände zusammen, ehe sie mich so fest in die Arme zog, dass ich kaum noch atmen konnte.

Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass diese Weihnachten von den schlimmsten Feiertagen meines Lebens zu den schönsten überhaupt werden konnten. Und das hatte ich alleine Jackson zu verdanken. Der Liebe meines Lebens.

*

Wie hat euch dieser kleine Exkurs nach Stowe, Vermont gefallen? Ich hatte mal wieder Lust, etwas richtig hoffnungslos Romantisches zu schreiben ;) Hoffentlich ist mir das in euren Augen gelungen. 

In nächster Zeit wird es von mir erst einmal nichts Neues zu lesen geben, da mich andere Projekte, über die ich - toi toi toi - bald mehr mit euch teilen kann, gut einspannen :) Aber gibt es denn irgendwelche Themen, über die ihr gerne mal etwas von mir lesen wollt? Ich bin wie gesagt gerne für eure Vorschläge offen :) Das hier wird nicht die letzte Kurzgeschichte gewesen sein :D

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