10. Kapitel

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Am nächsten Tag gehe ich nach draußen, um noch mal die frische Luft einzuatmen und zu meinen Lieblingsplätzen zu gehen. Die Luft tut mir gut, auch wenn sie nicht so frisch ist, wie ich sie in Erinnerung habe.

Der erste Platz den ich besuche, ist die Wiese mit dem großen Baum in der Mitte. Ich und meine Clique haben uns hier immer getroffen und rumgealbert. Das hier war einfach unser Platz. Der Baum ist wunderschön, groß und geschwungen. So malerisch. Man konnte ihn gar nicht richtig beschreiben. Oft haben wir versucht, auf ihn draufzuklettern, aber wir sind immer gescheitert. Es gibt einfach keine Möglichkeit, auf ihn rauf zu kommen. So gerne hätten wir die Welt mal von da oben gesehen.

Ich setze mich eine Weile in das Gras. Es ist so anders, wenn man hier alleine ist. Es ist nicht das selbe. Und zum ersten Mal sehe ich die Wiese so, wie sie für andere bestimmt aussieht: Klein, an einigen Stellen matschig und mit niedergetretenen Grashalme. Der grüne und magische Schimmer, den ich immer über der Wiese sehe, ist nicht mehr da. Viele kommen hierher, dieser Ort gehört einfach nicht uns.

Schnell stehe ich auf und gehe. Ich will die Wiese so in Erinnerung haben, wie sie ist, wenn wir alle da sind. Wenn wir lachen, manchmal sogar weinen. Wenn wir verrückte Fotos schießen, im Sommer picknicken umd wieder mal einen jämmerlichen Versuch starten, auf den Baum zu kommen.

*

Ich überlege nicht, wo ich hingehe und lande wieder vor meiner Haustür. Ich seufze. Das wars dann mit meinem Spaziergang. Ich öffne ganz langsam und lautlos die Tür, und schließe sie genauso lautlos wieder. Ich gehe ins Wohnzimmer, aus dem Stimmen kommen.

»Bitte. Alles wird gut.« Mein Dad.

»Wie kannst du das sagen? Kannst du jetzt in die Zukunft gucken?« Meine Mum.

Meine Mum sitzt am Tisch und ist über viele Umschläge gebeugt. Als ich näherkomme sehe ich, dass es Einladungen zu meiner Beerdigung sind. Ihre Haare sind etwas fettig und zu einem Messizopf gebunden. Haarstähnen fallen ihr in die Augen und sie sieht erschöpft aus. Zum ersten Mal sehe ich, wie alt meine Mutter eigentlich ist. Normalerweise hat sie immer so eine jugendliche Freude an sich, die sie jünger erscheinen lässt. Mein Dad steht hinter ihr und legt ihr gerade seine Hand auf ihre Schulter. Sie schüttelt sie ab.

»Du redest darüber, als wäre es vor Jahren gewesen! Ein paar Tage ist es her, seit...« Sie fängt wieder an zu weinen. »Ich weiß nicht, wieso...hast du sie nicht geliebt? Ja, es wirkt fast so! Es hat dir nichts ausgemacht, von Anfang an! Sie war deine Tochter. Ist es verboten, jetzt auch noch zu trauern?«

»Nein, das ist es nicht. Und wie kannst du es wagen, zu sagen, ich hätte sie nicht geliebt? Natürlich habe ich das.«

»Ach ja? Sicher?«

Meine Eltern, was ist los mit ihnen? Was soll das? Wieso streiten sie sich? Sieht Mum nicht, dass mein Vater nicht mehr dieses Lächeln in den Augen hat, seit es passiert ist? Dass er nicht mehr immer lacht, auch wenn es nicht witzig war? Dass sein Gang nicht mehr so federnd ist wie sonst, sondern schwerfällig? Wie kann sie so etwas sagen?

»Ja, ich bin mir sicher. Ich...es ist, als würde etwas mich innerlich zerreißen. Ich höre ihre Stimme, nachts. Ich wache auf, schweißgebadet, weil ich glaube, sie hat um Hilfe geschrien. Ich fahre mit dem Auto durch die Gegend, zu ihren Lieblingsplätzen, weil es ja sein kann, dass sie noch irgendwo da ist. Es ist als ob...als ob sie mich verfolgt. Sogar jetzt, in dieser Sekunde, könnte ich schwören, ihren Duft zu riechen. Sie zu spüren. Aber sie ist weg. Sie ist gegangen. Und niemand kann das ändern.« Ich schlucke. Spürte mein Dad, dass ich hier war? Machte ich ihn fertig mit meiner Anwesentheit?

»Aber ich weiß, dass sie nicht wollen würde, dass wir leiden. Also versuche ich einfach...ich versuche...« Er ringt um Fassung. Meine Mum steht auf und nimmt ihn in den Arm.

»Du hast Recht. Sie hätte niemals gewollt, dass wir leiden. Aber ich kann es nicht abstellen. Und du auch nicht, ich verstehe das jetzt. Es tut mir so leid.« Mein Dad hat seine Augen geschlossen und ich komme etwas näher. Als ich seinen Arm berühre, zuckt er zusammen.

»Was ist denn?«, fragt meine Mum besorgt. Sie lässt ihn los. Er schaut sich verwirrt um.

»Nichts...nichts.« Ich könnte schreien. Noch einmal will ich ihn umarmen. Einmal noch. Ich glaube, er ist vielleicht der einzige in meiner Familie, der mich losgelassen hat. Und meine Schwester. Sie ist mitgenommen, aber sie scheint es ganz gut zu verkraften. Wenn ich nachts in ihrem Zimmer bin, starrt sie meist lange ins Nichts, legt sich dann hin und schläft.

»Wie geht es Sara? Ich...meine, es war ihre Schwester. Ich habe in den letzten Tagen nicht auf sie geachtet, ich...ich war zu...«

»Ist schon ok. Es geht ihr gut. Ich habe mit ihr geredet. Sie hat gesagt, dass sie jeden Abend betet, dass Autumn gut ankommt.« Er lächelt. Sie lächelt auch. Ich muss hier nichts mehr machen. Mein Dad hat es verstanden. Meine Schwester auch. Aber meine Mum...ich weiß es nicht. Ich werde es in der nächsten Nacht sehen.

Ich gehe langsam rückwärts und steige die Treppe hoch. Dieser Moment ist vollkommen, und was sollte eine erdgebundene Seele daran ändern können?

*

Sofort schwimme ich zu dem Licht.

»Zeig mir die nächste Person.« Ich bin mir sicher, dass es meine Mutter ist. Meine beste Freundin, die Liebe meines Lebens und der Rest meiner Familie ist mit meinem Tod fertig geworden. Wenn das hier die letzte Person ist...kann ich vielleicht endlich gehen.

Ich höre wieder die Stimme, aber diesmal nicht meine.

»Sieh sie dir an! Sie ist so...besonders.«

»Mein Gott! Es ist nur ein Mädchen. Und du musst gleich wieder so kitschig werden.«

»Wenn es so ist. Ihre Haare, ihre Augen...einfach alles passt. Ich weiß nicht. Das ist so anders. Das hier ist so besonders.«

Jemand seufzt.

An diesen Moment kann ich mich nicht erinnern. Aber die Stimme...es hat sich ja fast so anghört wie... Nein.

Der Wirbel setzt ein.

Als er aufhört, stehe ich auf einem alten Spielplatz. Es sieht zumindest aus wie ein Spielplatz. Rostige Schaukeln und Wippen reihen sich aneinander. Der Wind spielt mit ihnen, lässt sie umherschwingen. Hier würde ich als Kind nicht spielen wollen. Das ist ein Spielplatz wie in einem Horrofilm.

Auf einer der Schaukeln sitzt jemand. Langsam komme ich näher.

Als ich erkenne, wer da sitzt, will ich rennen. Einfach rennen. Umdrehen, aufwachen, rennen. Egal wohin. Aber das hat schonmal nicht geklappt.

Und dann war ich tot.

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Die Wiese ist an einen realen Ort angelehnt, auch eine Wiese, auf der meine Freundinnen und ich oft sind :D Naaaa wer ist die mysteriöse Person auf der Schaukel?

Immer her mit Votes, Kommis und so weiter :) Auch gerne Kritik. Danke nochmal für die ganzen Votes und Kommis, und alle Reader, die meine Geschichte irgendwie finden :D Ich hab mal ein kleinen Liedtipp für euch, nur so ich mag das Lied *-*: Reverse von SomeKindaWonderful. Einfach mal schauen ;)

eure

blue_snowcat ❤


The FallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt