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C O R B Y N

(NEW YORK CITY, 25.05., zur gleichen Zeit)

Christina kriegt sich gar nicht mehr ein vor Lachen. "Das hast du nicht wirklich gemacht, oder?" Grinsend nicke ich. "Doch." Sie schlägt mir spielerisch gegen den Arm. "Der Arme, du kannst doch nicht einfach so seine ganze Welt auf den Kopf stellen!" Ich zucke mit den Schultern und schmunzele bei der Erinnerung an meinen 4 Jahre alten Cousin. Ich war übers Wochenende bei meiner Tante, meinem Onkel und deren Sohn zu Besuch in New Rochelle, einer Stadt in der Nähe von New York City, um den Geburtstag vom kleinen Greg zu feiern. Beim Spielen im Garten sind Greg und ich irgendwie auf das Thema "Ostern" gekommen und er hat mir ganz begeistert erzählt, dass er erst immer auf Ostereiersuche geht und sie dann mittags einen leckeren Braten essen. Auf meine Frage hin, was für ein Braten es denn gab, ist er sofort zu seiner Mum gerannt und hat sie gefragt. Da sie allerdings gerade beschäftigt war, hat sie nebenbei zugegeben, dass es ein Hasenbraten war. Stolz ist Greg also wieder zu mir zurückgekommen und hat mir seine Antwort gegeben. Ohne darüber nachzudenken habe ich überrascht gesagt: "Oh, das heißt ihr sucht erst die Eier, die der Osterhase versteckt hat, nur um ihn danach zu verspeisen? Sehr makaber." Als ich Gregs weit aufgerissene Augen gesehen habe ist mir mein Fehler bewusst geworden. Er glaubt ja wirklich noch an den Osterhasen. Erneut ist er zu meiner Tante gerannt und hat sie aufgebracht angeschrien: "Ihr habt den Osterhasen umgebracht!" Dann ist er weinend in sein Zimmer gestapft, hat sich mit verschränkten Armen auf sein Bett geschmissen und ist den ganzen Tag nicht mehr rausgekommen.

Gerade will ich anmerken, dass Greg jetzt immerhin vielleicht nie wieder Fleisch essen wird, da dreht Christina das Radio lauter. "Das seid ihr!", ruft sie begeistert. Und tatsächlich, gerade erklingen die ersten Töne von "Grey", einem unserer neuesten Songs. Stolz lächle ich. Doch als mein Part kommt, verblasst mein Lächeln langsam. "Von wem handelt das Lied eigentlich? Die Lyrics klingen ziemlich traurig.", fragt Christina nach einer Weile. Sofort meine ich: "Ach, wir haben uns einfach nur mal an einem etwas gefühlvolleren und traurigeren Song probiert weil wir wissen, dass sich viele Menschen darin wiedererkennen können." "Also geht es um keine spezifische Person?", hakt meine Freundin nochmal nach. "Nein.", lüge ich.

Für die anderen Jungs war es zwar vielleicht wirklich nur ein Lied von vielen, doch ich habe beim Ausdenken der Lyrics nur an eine einzige Person gedacht. Cassandra. I can't believe I let you go. Tatsächlich sind die meisten Lyrics dieses Liedes meine Idee gewesen, doch die Jungs waren ziemlich schnell damit einverstanden und haben nur ein paar kleine Dinge verändert. Ich hoffe nur, dass sie nicht bemerkt haben, dass diese Zeilen wirklich meinen Gedanken entsprechen.

"Corbyn?", fragt Christina und reißt mich damit aus meinen Gedanken. "Hm?" Besorgt schaut sie mich von der Seite an und fragt vorsichtig: "Ist alles okay?" Schnell nicke ich. "Ja! Ja." Nein. Die Wahrheit ist, ich vermisse Cassandra. Seit dem Tag an dem sie LA verlassen und wieder nach Hause geflogen ist, hatten wir keinen Kontakt mehr. Nur von Daniel weiß ich, dass sie Weihnachten auf O'ahu, einer hawaiianischen Insel verbracht hat. Sie ist allen Jungs der Band auf Insta entfolgt und hat uns – immerhin mit vorheriger Erklärung per DM – blockiert, da sie eine Auszeit von "dem Ganzen" braucht und das nicht funktioniert wenn sie uns täglich in ihrem Feed sieht. Auch auf allen anderen Social-Media-Plattformen hat sie uns blockiert damit wir ihr nicht schreiben können, was ich ehrlich gesagt ziemlich hart finde. Hätten wir nicht wenigstens ab und zu schreiben oder snappen können? So weiß ich überhaupt nicht mehr wie es ihr geht und generell, was so in ihrem Leben los ist. Oder ob sie einen Freund hat.
Nur zu ihrem Bruder hat sie auf WhatsApp Kontakt, aber den will ich damit ehrlich gesagt nicht belasten, schließlich wäre er bestimmt eher weniger begeistert wenn ich ihn über seine Schwester, die gerade eigentlich gar keinen Kontakt zu uns haben will, ausfrage.

Und genau diese Distanzierung war wahrscheinlich Cassandras Ziel.

"Wie du meinst...", murmelt Christina zweifelnd und biegt nach links in eine Tiefgarage ab. "Okay, wir sind da." Ich nicke, warte bis das Auto zum Stehen kommt, und steige dann langsam aus. Es kommt mir so lang her vor, dass ich das letzte Mal hier war. Obwohl zwischen Christina und mir inzwischen wieder alles gut ist, haben wir uns seit der Party nicht allzu oft gesehen. Sie hat viel an ihrem neuen Merch gearbeitet und hatte deswegen kaum Zeit nach LA zu kommen und ich habe mit den Jungs sehr viel Arbeit ins Produzieren von unserem neuen Album gesteckt. Doch jetzt, da unser Album veröffentlicht ist und ich sowieso in der Nähe war, habe ich mir gedacht, dass ich ja mal für ein paar Tage vorbeikommen könnte. Deshalb hat Christina mich von meinen Verwandten abgeholt und lässt mich jetzt für vier Tage mit in ihrer Wohnung in New York City wohnen, bevor ich nach LA zurückfliege und mich mit den Jungs auf unsere, kurz bevorstehende, Europa-Tour vorbereite.

Sobald die Tür hinter uns ins Schloss fällt, drücke ich meine Freundin sanft aber bestimmt gegen die Wand und stütze meine Hände seitlich von ihr ab. Überrascht grinst sie mich an, zieht mich aber schon im nächsten Moment noch näher an sich heran und legt ihre Lippen ungeduldig auf meine. Ich seufze auf und dränge mich zufrieden an sie heran. Ihre Hände wandern unruhig über meinen Körper, während ich sie ungeduldig in Richtung ihres Schlafzimmers dränge.

Verzweifelt versuche ich meinen Kopf abzuschalten. Meinen Kopf, der mir die ganze Zeit sagen will, dass ich das hier nicht tun sollte. Dass ich Christina nicht benutzen sollte, um mich abzulenken. Ich weiß, dass ich mich meiner Freundin gegenüber schrecklich verhalte, doch... sie ist die einzige, die mich noch von einem gewissen anderen Mädchen ablenken kann. Und so toxic diese Beziehung auch ist, ich brauche sie. Und Christina braucht mich genauso sehr.
Das weiß ich, denn auch in ihrem Leben bin ich die einzige Konstante. Die einzige Person, die ihr eine gewisse Stabilität gibt, auch wenn wir längst nicht mehr so verliebt ineinander sind wie wir es in den ersten Jahren waren. Wir sind nur einfach schon so lange Teil des Lebens des Anderen, dass wir eben genau das sind: Ein Teil des Anderen. Wir sind einfach da.

Und ich weiß, dass es so nicht ewig weitergehen kann. Natürlich nicht. Spätestens wenn Christina jemanden findet, den sie wirklich liebt, bin ich abgeschrieben. Doch das ist gerade nicht wichtig. Gerade brauche ich sie einfach.

Als Christina und ich beinahe eine Vase umwerfen weil wir nicht auf unsere Umgebung achten, öffne ich meine Augen schnell wieder um weitere Unfälle zu vermeiden. Doch was ich dann sehe lässt mich erschrocken zurücktaumeln.

Dort sitzt sie. Auf Christinas Bett. Seelenruhig. Ihr Blick ist ausdruckslos auf mich gerichtet, doch als sie sieht, dass ich sie bemerkt habe bildet sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen. "Corbyn...", flüstert es in meinem Kopf, so deutlich, dass ich mich unmöglich verhört haben kann. "Cassandra...", wispere ich, überwältigt von einer Welle an Gefühlen.
Wie ist sie hier her gekommen? Wieso ist sie hier? Hat sie mich vermisst? Wird sie bei mir bleiben? Alle Fragen stürzen auf einmal über mir zusammen und prasseln nur so auf mich ein.

Doch meine Gedanken werden unterbrochen als ich realisiere, dass Christina sich, ohne sich umzudrehen, auf ihr Bett setzen will. Schnell springe ich vor, rufe "Achtung!" und schubse sie ein Stück zur Seite, um sie davon abzuhalten sich auf Cassandra zu setzen. Entgeistert starrt Christina mich an. "Was zur Hölle?!" Ich beachte sie allerdings gar nicht. Mein Blick gleitet wieder zur Stelle an der Cassandra gerade noch gesessen hat.
Sie ist weg. Meine Augen suchen unruhig das Zimmer ab, doch ich kann sie nicht finden. Natürlich nicht.
Cassandra war nie hier.

Ich glaube ich werde verrückt.

Aufgewühlt drehe ich mich wieder zu Christina. "Ich... Tut mir Leid...", murmele ich ohne sie direkt anzuschauen und verlasse dann in schnellen Schritten ihr Schlafzimmer. "Corbyn, was -", fragt sie verwirrt, doch ich bin schon im Flur. "Corbyn!", ruft sie mir entgeistert hinterher. Ich beschleunige meine Schritte, reiße die Tür auf und verlasse fluchtartig Christinas Wohnung.

Ich muss an die frische Luft. Alleine.

𝐈 𝐡𝐚𝐭𝐞 𝐭𝐡𝐚𝐭 𝐈 𝐥𝐨𝐯𝐞 𝐲𝐨𝐮 || 𝐖𝐡𝐲 𝐃𝐨𝐧'𝐭 𝐖𝐞 𝐅𝐅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt