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I N   D E R   Z U K U N F T
(3 Monate später)

C A S S A N D R A

Mit wackeligen Beinen biege ich um die Ecke, hinter der Bell und mich eine kurze Schlange von anstehenden Menschen erwartet. Ich lasse meinen Blick über die Leute wandern. Die meisten sind vermutlich einige Jahre älter als wir, was auch nur logisch ist, denn eigentlich dürften Bell und ich mit unseren 18 Jahren ja noch gar nicht in Clubs. Doch das interessiert meine Freundin herzlich wenig. Zielsicher tritt sie zu den anderen dazu und zieht mich einfach mit sich. Wer weiß, wie lange ich mich hier sonst noch im Schatten der Gasse versteckt hätte, weil mir allein schon bei dem Gedanken daran, mich in diesen lauten Club hineinzuschmuggeln, das Herz in die Hose rutscht. So habe ich gar keine Zeit darüber nachzudenken, denn schon noch kurzer Zeit landen wir vor dem Türsteher.

"Ausweise.", befiehlt er nur ausdruckslos, ohne uns überhaupt genauer zu betrachten. Heißt das jetzt, dass wir sowieso alt genug wirken? Oder, dass er es als Zeitverschwendung empfindet, uns überhaupt anzuschauen weil wir zu jung wirken und er weiß, dass unser Ausweis garantiert ein Alter unter 21 Jahren aufweisen wird? Doch auch darüber habe ich nicht viel Zeit nachzudenken. Bell zieht ihren Ausweis aus ihrem Pailletten-besetzten Portemonnaie und greift kurzerhand auch in meine kleine Handtasche, als ich keine Anstalten mache, ihrem Beispiel zu folgen. Selbstsicher lächelnd überreicht meine Freundin dem Mann unsere gefälschten Ausweise und streicht sich seelenruhig eine ihrer widerspenstigen Locken hinters Ohr. Zu meiner Überraschung gibt der Türsteher uns die Karten - ohne mit der Wimper zu zucken - zurück. Er winkt uns einfach durch und widmet sich dann den Nächsten in der Schlange.

Zufrieden beißt Bell sich auf die Unterlippe und stößt mich, sobald wir außer Sichtweite sind, lachend mit der Hüfte an. Dann stolziert sie elegant den Gang entlang den bunten Lichtern entgegen.

J E T Z T

Ungeduldig blicke ich Bell an. Wieso rückt sie nicht einfach mit der Sprache raus? "Von wem denn?", frage ich also beunruhigt nach. Für einen kurzen Moment zögert sie noch, dann antwortet sie langsam: "Von Corbyn."

Überrascht blinzele ich. Ich wusste gar nicht, dass die beiden Kontakt zueinander haben. "Corbyn?", wiederhole ich zur Sicherheit nochmal, woraufhin Bell bestätigend nickt. "Er hat mich vorhin angerufen." Verwundert hebe ich meine Augenbrauen. Ihre Handynummer hat er also auch? Wie als hätte sie meine Gedanken gelesen, schiebt meine Freundin schnell hinterher: "Meine Nummer hat er sich von Daniel geben lassen." Dann musste es ja anscheinend wirklich dringend gewesen sein. Verwirrt nicke ich nur. "Was wollte er denn?", will ich neugierig wissen. Mit hochgezogenen Brauen blickt Bell mich an, dann antwortet sie nur leise: "Er hat sich Sorgen um dich gemacht."

Ich hätte mit allem gerechnet. Damit jedoch nicht. Für einen Moment schaue ich Bell sprachlos an, bevor sie fortfährt. "Wirklich, er war ziemlich besorgt. Ich weiß nicht genau, was vorgefallen ist, er hat mir nur erzählt, dass Jonah an einer ziemlich unpassenden Stelle in ein Gespräch geplatzt ist und du danach wirklich mitgenommen aussahst. Aber er konnte dich nicht erreichen, weil du ihn und die Jungs ja blockiert hast. Und deinen Bruder wollte er nicht nach seinem Handy fragen. Er... wollte, dass ich dir ausrichte, dass du ihn jederzeit anrufen kannst und er... immer für dich da ist." Ein, nur allzu bekanntes, Kribbeln schleicht sich in meinen Bauch. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich reagieren soll, so sehr überfordert mich die heranrollende Welle an Gedanken.

Hat Corbyn in den letzten acht Monaten womöglich schon öfter versucht, mich zu erreichen? Meint er seine Worte von damals immer noch genauso? Ich mag dich, Cassandra. Ich mag dich wirklich. Es kommt mir vor, als hätte er mir dies erst gestern gestanden, so intensiv hat die Erinnerung sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich weiß noch genau, wie verzweifelt er bei diesen Sätzen geklungen hat. So verzweifelt, dass ich den Eindruck hatte, nicht nur ich wäre von dieser Tatsache unendlich überrascht. Doch selbst falls er diese Worte wirklich ernst gemeint haben sollte, die Zeit nach meinem Abschied von den Mitgliedern der Band Why Don't We hat mir deutlich gemacht, dass zwischen Corbyn und mir niemals mehr als Freundschaft sein dürfte.

Zwei Monate lang habe ich beinahe jeden Tag geweint. Geweint um die verlorene Freundschaft zu Jonah. Geweint um meinen Bruder, den ich schon wieder viel zu selten sah. Geweint um Zach und Jack, die ich von mir stieß obwohl sie mir gar nichts getan haben. Geweint um Corbyn. Um das, was wir mit unseren Gefühlen zerstört haben.

Nach diesen zwei Monaten, in denen ich tagsüber immer eine glücklich scheinende Maske aufsetzte, abends jedoch wie von selbst darunter hervorgezerrt wurde, habe ich etwas beschlossen. Denn dieses zerreißende Gefühl, diese Atemnot wenn mein Herz sich zusammenzog sobald am Ende des Tages meine Zimmertür hinter mir zufiel, wollte ich nicht länger spüren müssen. Also habe ich entschieden, weiter zu machen. Die Vergangenheit ruhen zu lassen und mich stattdessen auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Nicht zurück zu blicken. Und vor allem... nie wieder den selben Fehler zu machen. Ich werde nie wieder zulassen, dass sich jemand in mein Herz schleicht und damit alles andere um mich herum zerstört. Dass ich mich der Vorstellung hingebe, Liebe würde alles besser machen, all meine Probleme wie von selbst lösen, wenn sie mir doch eigentlich nur die Augen vor gerade diesen Problemen verschließt.

Und diese Taktik hat bis jetzt auch gut funktioniert. Bloß niemanden zu nah an mich heran lassen, lieber auf Freunde konzentrieren und darauf, ein unkompliziertes, schönes Leben zu haben. Doch nun... werde ich auf einmal wieder mit all den Dingen konfrontiert, die ich eigentlich für immer in mein Herz verschlossen hatte.

"Meinst du nicht, du könntest ihn anrufen?", fragt Bell vorsichtig und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Dafür bin ich ihr im ersten Moment dankbar, doch als ich begreife, was sie da gerade vorgeschlagen hat, mache ich sofort zu. "Nein.", antworte ich schnell und wende meinen Blick vom Display ab. "Und wenn du ihm wenigstens schreibst? Er klang wirklich so, als würde er dir gerne helfen." Vehement schüttele ich den Kopf. "Nein, das geht nicht." Würde ich ihm die Möglichkeit geben, wieder in Kontrakt mit mir zu treten, wären die letzten Monate umsonst gewesen. Es ist schon schlimm genug, dass wir gestern geredet haben, denn bereits nach diesem Gespräch spüre ich, wie meine mühevoll errichtete Mauer anfängt zu bröckeln. Und das kann ich nicht zulassen. "Sandra... Ich weiß, dass du Angst hast, ihn zu dir zu lassen. Aber merkst du nicht auch, dass es dir nicht gut tut, dein Herz so zu vernachlässigen?", spricht Bell sanft das aus, was ich mir selbst nicht eingestehen will: Ich habe Angst. Angst, den gleichen Fehler zu wiederholen und einer Person mein Herz in die Hände zu legen, in der Hoffnung, dass sie es gut behandelt. Die Kontrolle abzugeben.

"Du hast mir ein Versprechen gegeben, erinnerst du dich?", will Bell auf einmal wissen, woraufhin ich meinen Blick nun doch wieder auf sie richte. Ohne auf meine Bestätigung zu warten, fährt sie fort. "Du hast mir versprochen, nicht zu vergessen auf dein Herz zu hören." Ich schlucke und senke meine Lider. Sie hat recht, das habe ich ihr versprochen. Zu gut erinnere ich mich noch an unseren Abschied als sie zu ihrer Familie nach Italien geflogen ist. Schon zu diesem Zeitpunkt hat sie gewusst, dass Corbyn und mich irgendetwas verbindet, ohne dass ich ihr von uns erzählen musste. Sie hat eben schon immer diese Eigenschaft gehabt, so was zu spüren. "Ich weiß, dass du denkst, deinem Herzen hiermit etwas gutes zu tun. Aber in Wahrheit tust du genau das Gegenteil, du schließt es aus.", erklärt meine beste Freundin mir vorsichtig, als würde sie fürchten, dass ich einfach auflege. Stumm sehe ich sie an und merke dabei, wie sich langsam weitere Risse in meine Mauer schleichen. "Und meinst du nicht auch, dass dein Herz schon genug durchgemacht hat?"

𝐈 𝐡𝐚𝐭𝐞 𝐭𝐡𝐚𝐭 𝐈 𝐥𝐨𝐯𝐞 𝐲𝐨𝐮 || 𝐖𝐡𝐲 𝐃𝐨𝐧'𝐭 𝐖𝐞 𝐅𝐅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt