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Nach den ersten drei Stunden Fahrt entspanne ich mich langsam etwas

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Nach den ersten drei Stunden Fahrt entspanne ich mich langsam etwas. Wie Tante Mags vermutet hat, gibt es keine Identitätskontrolle. Wer würde auch auf die Idee kommen, die dritte Phase bestreiten zu wollen, wenn man eine der vorherigen bestanden hat?
Ich frage mich aber, wie die Regierung kontrolliert, dass alle Achtzehnjährigen, die auch die zweite Phase nicht bestanden haben, an der dritten Phase teilnehmen. Ich grübele darüber nach, wie verhindert werden soll, dass diese Jugendlichen aus Todesangst untertauchen, statt an der dritten Phase teilzunehmen.
Die dritte Phase ist schließlich einerseits die letzte Chance aufs Überleben, aber andererseits auch das sichere Todesurteil, wenn man erneut scheitert.
Kontrovers.

„Du grübelst schon wieder", meint Sam und wedelt vor meinem Gesicht herum. Ich sitze zusammen mit ihr, Laurent und zwei weiteren Achtzehnjährigen in einem Sechser-Abteil. Ich wollte mich anfangs in eines der großen Abteile setzen, doch Sam meinte, dass es viel besser ist, in seinem eigenen kleinen Abteil zu sitzen. Sie hat Recht behalten.
Ich lege eine der Spielkarten auf den Stapel auf dem Tisch zwischen uns. Sam sitzt direkt neben mir, Laurent mir gegenüber. Neben ihm sitzen der hagere, rotblonde Achtzehnjährige, der sich als Robert vorgestellt hat, und ein großer, dunkelhäutiger Junge namens Uray.

Ich bin für die anderen Ava. Nicht „Ave", nicht „Avelaine", nicht „Newton". Einfach nur Ava.
Wir haben uns alle nur mit unseren Vornamen vorgestellt, was für mich vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen wäre. Mein Familienname war immer das Wichtigste; es war eine Ehre, ihn tragen zu dürfen. Der Name „Newton" ist in der ganzen Stadt, wenn nicht sogar in weiteren Gebieten bekannt. Wir sind eine der elitärsten Wissenschaftlerfamilien, die es in diesem Land gibt.
Sie sind es, verbessere ich mich schnell.
Ich bin einfach nur Ava.

„Laurent, du bist dran." Sam stöhnt genervt. „Wieso seid ihr nur alle so in Gedanken versunken?"
Laurent grinst schief und wendet den Blick von mir ab, um seine Karte auf meine zu legen. Dann sieht er mich wieder an.
Verlegen wende ich den Blick ab und schaue aus dem Fenster links von mir. Die Welt draußen zieht in einer Geschwindigkeit an uns vorbei, die mich noch immer fasziniert.
„Wie viele, glaubt ihr, werden es sein, die .... gehen müssen?" Nachdenklich schaue ich die anderen an. Gehen ist die Untertreibung des Jahrhunderts. „Die sterben müssen" wäre passender.

Im Abteil wird es plötzlich still. Ich schlucke, mein Blick fällt unwillkürlich auf Laurent, der seine Hände auf einmal unheimlich interessant findet.
Habe ich etwas falsches gefragt? Unruhig wende ich den Blick ab. Wie kann eine solche Frage nicht gestellt werden? Man muss sich doch mit den Fakten beschäftigen, oder nicht?

Ich weiß nicht, wie lange es still ist. Doch dann durchbricht die Durchsage für den nächsten Halt unser Schweigen, und danach spielen wir weiter, als wäre nichts geschehen.

***

Ich werde es schaffen. Der Gedanke erfüllt mich in den ersten Stunden der Nacht, und ich ergreife ihn gerne als Anker für meinen Halt. Ich liege wach, an meinen Schlafsack gelehnt. Meine Beine kreuzen unter dem Tisch Laurents. Die anderen scheinen zu schlafen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie ihre Ruhe nur vortäuschen. Wie kann man Schlaf finden, wenn man am nächsten Tag vielleicht schon tot sein wird?

Der Gedanke lässt mich erstarren. Ich drücke mich fester an das Zugfenster und ermahne mich selbst, ruhig und tief einzuatmen. Ich werde es schaffen. Ich muss es schaffen.

Um mich abzulenken, hole ich meinen Bildschirm aus meiner Jacke, die neben mir hängt. Meine Eltern habe ich blockiert, damit sie keinen Kontakt mit mir aufnehmen können.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie es überhaupt wollen würden.

Ich berühre den Bildschirm mit meinem Zeigefinger, und er leuchtet auf. Nachdem ich mit zusammengekniffenen Augen die Bildschirmhelligkeit runtergefahren habe, atme ich aus. 3:12 Uhr. Ich versuche auszurechnen, in wie vielen Stunden wir beim Camp ankommen werden, doch mein Kopf fühlt sich dumpf an und die Ziffern verdrehen sich wirr vor meinen Augen. Mit einem leisen Seufzen lasse ich den Bildschirm wieder in die Jackentasche gleiten und starre auf den Tisch. Darauf stehen zwei leere Flaschen. Ich weiß nicht, wer es war, aber irgendjemand hatte Alkohol dabei. Ich habe nichts getrunken.

Ich versuche, eine bequemere Schlafposition zu finden, was damit endet, dass Uray ein Auge aufschlägt und mich missbilligend ansieht. Beim Kartenspielen war er echt nett, aber ich bezweifle, dass das bis zur Ausbildung währt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Beim Einzelkampf würde er mich bestimmt haushoch übertreffen.

Ich schließe meine Augen und bemühe mich um einen ruhigen Atem, doch mein Puls schlägt viel zu schnell. Ein Gedankenknoten bildet sich in meinem Kopf. Wäre ich bereit, zu töten, um zu überleben? Könnte ich jemals jemanden umbringen? Wie zur Hölle macht man das überhaupt?
Verzweifelt schlage ich meine Augen wieder auf. Mein Blick fällt wie von selbst auf Uray, dann schiele ich auf Sam. Ihre bunten Haare stehen wild von ihrem Kopf ab, auf ihren Lippen liegt ein zufriedenes Lächeln.
Sie sind alle so viel besser für die dritte Phase geeignet als ich. Die Feststellung trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube.
Ich bin zu schwach.

Unruhig reibe ich meine Schläfen. Schlaf einfach, Ava, mahne ich mich. Doch ich kann einfach nicht mehr klar denken.
Langsam erhebe ich mich, bedacht darauf, die anderen nicht aufzuwecken. Mit angehaltenem Atem steige ich über Sams Beine, den Schlafsack in meinen Armen. Sie gibt ein leises Grunzen von sich, als ich mich in ihnen verfange. Ich haste zu der Tür des Abteils und trete auf den Gang, nachdem ich sie sorgfältig wieder geschlossen habe.

Als ich endlich mehr Platz um mich herum habe, atme ich hörbar auf. Ich lege den Schlafsack ab, bevor ich kurz auf die Toilette gehe. Das Licht in dem kleinen Raum ist viel zu hell, doch ich schöpfe gierig Wasser in mein Gesicht und lasse mir Zeit, bevor ich wieder aus der Toilette trete.
Ich werfe einen kurzen Blick auf die schlafenden Achtzehnjährigen vor mir. Hinter mir, aus dem anderen Waggon, höre ich leises Gekicher. Es gibt tatsächlich Menschen, die sich amüsieren können, bevor sie sterben.
Schnell schüttele ich den Kopf, um den düsteren Gedanken zu vertreiben. Jetzt ist nicht die Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. Es ist verdammt nochmal halb vier morgens und ich brauche den Schlaf für die nächsten Tage.

Ich breite meinen Schlafsack auf dem Boden des Ganges aus, wobei ich bemüht bin, möglichst nahe an der Tür zu unserem Abteil zu bleiben. Mir ist etwas mulmig bei dem Gedanken, dass viele hier vorbeikommen könnten, doch diese Zweifel werden jäh erstickt, als ich mich endlich so ausbreiten kann, wie ich möchte. Ich wickele mich tief in den Schlafsack ein, bevor ich erneut die Augen schließe und auf das leise Brummen des Zuges achte.

Viel besser.

Intelligent - Phase 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt