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Ich kann es nicht glauben

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Ich kann es nicht glauben. Ich kann es wirklich nicht glauben. Dieses Mädchen will doch tatsächlich ihr Überleben aufs Spiel setzen, um den Beruf ausführen zu können, den sie sich ausgesucht hat.
Auch wenn mich dieser Fakt zum Nachdenken über meine eigene Zukunft anregt, kann ich nicht anders, als Sam fassungslos anzustarren. In der Hoffnung, dass sie einfach loslacht und sich darüber lustig macht, dass ich ihr auch eine Sekunde lang geglaubt habe.

„Ich habe den Beruf des Künstlers zum Prüfen gewählt, weil ich gehört habe, dass die Aufseher hier am wenigsten streng sind und auch mal ein Auge zudrücken", fährt sie fort.
Auge um Auge sitzen wir nebeneinander, mustern uns. Auch wenn es nicht auf eine feindselige, sondern eher neugierige Weise ist, hätte ich vor ein paar Tagen noch beschämt den Blick abgewandt. Jetzt tue ich nicht, sondern runzele nachdenklich die Stirn. Sams Sichtweise auf den Test ist für mich völlig abwegig, aber irgendwie hat sie seinen Reiz. Wie wäre es wohl, nach fünfzehn Minuten einfach zu gehen?, überlege ich. Den Testaufsehern und der Regierung zu zeigen, dass sie einen weder kontrollieren noch kategorisieren können?
Es muss ein unglaublich befreiendes Gefühl sein, sie machtlos zu sehen.

Ich denke so lange darüber nach, dass ich gar nicht bemerke, dass zwei Männer in den Raum kommen. Erst, als einer von ihnen zu sprechen beginnt, zucke ich zusammen und hebe erschrocken den Kopf. Sam neben mir grinst und legt lässig einen Arm auf meine Stuhllehne. Ich registriere es nur aus den Augenwinkeln, weil einer der Männer meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
„Willkommen zur zweiten Phase", begrüßt er uns. Seine Worte klingen weder leise noch laut, aber sie bewirken, dass alle gebannt zuhören. „Ich bin Phoenix Bishop, Sohn des Vizepräsidenten." Phoenix räuspert sich leise - fast als wäre es ihm peinlich, einen so hohen Rang in der Gesellschaft innezuhaben und doch der Einweisung ein paar Möchtegern-Künstler zugewiesen zu sein. Zumindest ist es das, was ich mir einbilde, denn ich traue es ihm zu, enttäuscht zu sein.
Ich traue es ihm zu, das größte Arschloch der Welt zu sein, weil ich ihn unwillkürlich mit dem Tod meines Bruders in Verbindung bringe. Weil ich, wenn ich hochschaue und ihn mustere, denke, dass mein Bruder auch so groß werden sollte wie Phoenix. Er hätte ein Jugendlicher, ein Mann und später ein Opa werden sollen. Er hätte eines Tages so gefasst und ernst wie der Sohn des Vizepräsidenten wirken sollen. Verantwortungsvoll, abschätzend, rational.
Er hätte all das sein sollen, was ich zum Bedauern meiner Eltern nicht bin.

Meine Hände sind zu Fäusten geballt, doch ich halte Phoenix' Blick stand, den er scheinbar für einen kurzen Moment auf mich richtet und dann über die anderen Achtzehnjährigen gleiten lässt. Ich frage mich, ob Elias auch so breitbeinig dastehen würde wie Phoenix - als würde er von seinen leicht gebeugten Schultern ablenken wollen, die in seinen jungen Jahren bereits die Last der Welt zu tragen scheinen. Ich frage mich, ob man in den Gesichtszügen meines Bruders auch bloß schleierhaft Anzeichen von Jugend erkennen würde, obwohl der Sohn des Vizepräsidenten nach meinem Wissen erst zwanzig Jahre alt ist.
Irgendwie fasziniert es mich, dass ich allem Anschein nicht die Einzige bin, die als junge Erwachsene keine Teenie-Dinge im Kopf hat, sondern mit all ihrer Willenskraft versucht, ihre Aufgabe in der Gesellschaft und vor ihrer Familie zu erfüllen.
Nun, zumindest war es das, was ich vor meinem Scheitern in der ersten Phase getan habe.

„Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, stehen die Leinwände schon bereit. Aber auch wenn ich der Überzeugung bin, dass Kunst erhalten bleiben sollte, können euch die daran befestigten Zettel bestimmt mehr über eure spezifische Aufgabe verraten als ich", verkündet Phoenix und lächelt charmant. Ich verdrehe im Kontrast zu dem leisen Gekicher im Raum nur die Augen, während sich in mir etwas anspannt. Auch wenn der Sohn des Vizepräsidenten zugegebenermaßen eine faszinierende Autorität hat, die nicht nur aufgrund seines Aussehens besteht, habe ich das Gefühl, ihn bereits jetzt nicht leiden zu können. Denn seine Mimik und Gestik zeigt genau das, was ich von einem Mitglied des Rats erwartet habe: Überheblichkeit.

Als der Sohn des Vizepräsidenten mit seinem unnötigen Einführungsgeschwafel fertig ist und uns endlich unseren Räumen zuteilt, muss ich in dem bleiben, in dem wir uns gerade befinden - ebenfalls wie Sam.
Ich bleibe mit ihr sitzen, bis etwa zwei Drittel der Achtzehnjährigen den Raum verlassen haben und nur noch etwa zehn übrig sind. Währenddessen schaue ich auf die Uhr an der Wand und zähle förmlich die Minuten bis zum Anfang. Ich spüre brennende Blicke auf mir und glaube fast, dass es Phoenix' sind, doch dann stelle ich fest, dass Sam mich mit einem Schmunzeln mustert und komme mir paranoid vor. „Was ist?", keife ich sie an und rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Wann können wir endlich anfangen?
Fast bereue ich es, Sam so angefahren zu haben, doch dann lacht sie leise. „Du bist echt nervös", stellt sie belustigt fest. Ich runzele die Stirn und schaue sie böse an. „Stimmt doch gar nicht."

Sie zuckt mit den Schultern und grinst. „Dann eben nicht."

Ich atme tief durch. Nein, nervös bin ich wirklich nicht.
Ich bin durcheinander, verwirrt.
Wütend.
Und es macht es auch nicht unbedingt besser, das Phoenix immer noch bei uns im Raum ist und allem Anschein nach auch nicht vorhat, zu gehen. Stattdessen schaut er auf die Uhr an seinem Handgelenk, bis es Zeit ist, anzufangen, und nickt dann dem Mann zu, der mit ihm in den Raum gekommen ist.
Dieser wiederum gibt einer Frau Bescheid, die sehr nach einer Soldatin aussieht. Sie gibt das okay an uns weiter, loszulegen.

Ich gehe direkt auf die Leinwand zu, auf der meine Nummer steht. Meine Knie sind weich und zittern - irgendwie habe ich das Gefühl, keine Kontrolle über meinen Körper zu haben. Alles, was ich wahrnehme, ist die weiße Leinwand, dessen Zettel ich sofort abreiße, als ich dort angekommen bin.
Ich kann es kaum fassen, als meine Blicke hektisch über die Aufgabenstellung fliegen:

Male etwas, was du mit dem Testsystem in Verbindung bringst. Die Atmosphäre soll positiv sein.
Zeit: 3 Stunden

Sie wollen allen Ernstes meine Überzeugung vom Staat sehen. Ich glaube, ich kotze gleich, denke ich, doch ich bemühe mich um eine gefasste Miene.
Vor meinem inneren Auge sehe ich meinen Bruder. Dann Phoenix, wie er lächelt. Elias, wie er den Händen meiner Mutter entrissen wird, verurteilt wird, ohne dass es eine wirkliche Gerichtsverhandlung gibt. Zum Tode.
Ich sehe, wie er als Baby schreit, als die Männer ihn mitnehmen, höre Phoenix' Lachen, das ich noch nie gehört habe, und am liebsten erlöschen würde, weil es mich verrückt macht. Ich sehe, wie er stirbt, vor meinen Augen, mit meinem Messer in der Brust.

Als ich nach vierzehn Minuten den Pinsel in die Hand nehme und ihn in schwarze Acrylfarbe tunke, schreibe ich nur wenige Worte auf die Leinwand.

Der Test wird niemals über das Menschliche in uns siegen.

Intelligent - Phase 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt