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Eigentlich hatte der Junge schon die ganze Zeit das Gefühl, dass an diesem Tag etwas Schlimmes passieren würde

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Eigentlich hatte der Junge schon die ganze Zeit das Gefühl, dass an diesem Tag etwas Schlimmes passieren würde. Nicht umsonst war das ganze Land, nein, die ganze Welt in Aufregung.
Nicht umsonst lag im Blick seines Vaters etwas, das der kleine Junge nicht deuten konnte.
Noch nicht.


„Ich habe auf die Leinwand geschrieben .... ich habe auf die Leinwand geschrieben, dass der Test niemals über das Menschliche in uns siegen wird." Ich spiele an meinen Fingern herum, dann sehe ich auf.

Ich kann Tante Mags Mimik nicht deuten. Im schwachen Licht des Mondlichts draußen wirken ihre Gesichtszüge hart, nicht vertraut wie sonst. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich sie seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen habe.
Ihre Wangen wirken eingefallen, ihre Lippen bilden eine dünne Linie. Dann gibt sie plötzlich einen Laut von sich, der sich nach einem unterdrückten Schnauben anhört.

Ich runzele die Stirn und ziehe fragend eine Augenbraue hoch. Bitte lach einfach, betet eine Stimme in meinem Inneren. Bitte lach einfach wie früher und verurteile mich nicht.

Tante Mag lacht tatsächlich. Erst ist es nur ein leises Prusten, dann wird es lauter und herzlicher. Vermutlich kann nur mein eingeschüchterter, müder Gesichtsausdruck sie davon abhalten, mir mit ihren klobigen Händen lachend auf den Rücken zu klopfen.

„Mann, Ava." Sie grinst und zeigt dabei ihre alten Zähne. Sie hat nie die Behandlung bekommen, die sie gegen ihren Karies braucht, den sie scheinbar schon seit Jahrzehnten hat.
„Du bist echt so eine Nummer." Sie stützt ihre Hände auf ihre Oberschenkel und erhebt sich schwerfällig. Ich bin so verwirrt, dass ich nicht weiß, ob ich ihr aufhelfen soll.

Tozu streicht mit seinem flauschigen Schwanz gegen Tante Mags Beine, als sie von mir weg zur Küche geht und dort ein kleines Licht anmacht, nachdem sie die Vorhänge noch dichter zugezogen hat.

Tante Mag ist eigentlich nicht meine Tante. Dafür ist sie zu alt.
Wehmut keimt in mir auf, als ich daran denke, wie wir uns vor Jahren getroffen haben. Ich, ein kleines Kind, bereits gebrochen durch den Tod meines Bruders. Sie, die verrückte alte Frau, die ich schon lange gebraucht hatte und durch die ich endlich lernte, zu zeichnen.
Sie hat mir alles gezeigt. Ölmalerei - ich weiß immer noch nicht, ob Tante Mags Farben stinken, weil sie einfach so alt sind wie sie, oder Ölfarben generell eine unangenehme Angelegenheit sind -, Bleistiftzeichnung und Fotografie. Wobei, in Fotografie konnte mich Tante Mag nur ein paar Monate lang unterrichten, da meine Eltern schließlich die kleine Kamera unter meinem Bett, für die ich lange gespart hatte, entdeckten und mir wegnahmen. Tante Mags war zu arm, um eine eigene zu besitzen. Trotzdem hat sie mir alles über Kunst erzählt, was ich wissen musste.

„Tozu, lass deine Pfoten von dem Brot, das ist für Ava", kommt es aus der Küche.
Ich gebe mir einen Ruck und erhebe mich von dem abgewetzten, aber dennoch unheimlich gemütlichen Sessel. Im Haus meiner Eltern gibt es nur moderne, schlichte schwarze Stühle, die bestimmt das Dreifache gekostet haben.

„Tante Mag, kann ich dich etwas fragen?" Ich eile in die Küche und hätte dabei fast Tozu um den Haufen gerannt. Der Kater gibt ein beleidigtes Miau von sich, ehe er wieder in der Dunkelheit verschwindet.

„Natürlich, Kind." Sie wirft mir einen Seitenblick zu, in dem ich glaube, Mitleid zu erkennen. Dann fährt sie fort, Brot auf der Küchenanrichte zu schneiden.

Ich räuspere mich, weil ich nicht ganz weiß, wie ich anfangen soll. „Wieso sind ... die Vorhänge zugezogen?"

Tante Mag erstarrt in ihrer Bewegung. Sie blinzelt kurz, ehe sie das Schneidemesser bedächtig zur Seite legt und sich zu mir umdreht. Ihre Augen strahlen eine Trauer aus, die ich noch nie bei ihr gesehen habe. „Lass uns nicht darüber reden. Marquis hat seine Drohungen wahrgemacht." Sie rückt ihren Pullover zurecht, doch ich glaube, dass sie die Bewegung nicht einmal wahrnimmt. „Das ist alles", fügt sie noch leise hinzu, ehe sie den Blick von mir abwendet und zwei beladene Teller und Tassen zurück ins dunkle Wohnzimmer trägt.

Ich sehe ihr für einen Moment nachdenklich hinterher. Marquis war ihr Vermieter, erinnere ich mich vage. Dann stutze ich. Er hat sie rausgeworfen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Wie sie es früher immer befürchtet hat.
Jetzt wohnt sie heimlich hier, weil das alte Haus sowieso keinen neuen Abnehmer findet.

Mitleid regt sich in mir. Und ich bin eine weitere Person, die Tante Mag nur benutzt und dann verlässt.
In meinem Inneren herrscht ein Gefühlschaos. Ich zittere immer noch von dem Schock und der Unheimlichkeit des Hauses. Früher habe ich mich hier immer wohl gefühlt. Jetzt ist das Haus nicht mehr wie früher.

Ich setze mich wieder auf den Sessel. „Das tut mir leid." Ich trinke einen Schluck von dem Tee, den sie mir angeboten hat, und seufze auf, als die wohlige Wärme sich in meinem Körper ausbreitet.

Es herrscht einen Moment lang Stille zwischen uns, die nur durch Tozus wirren Versuch, auf meinen Sessel zu klettern, und seinem Schnurren unterbrochen wird.

Ich wähle meine Worte mit Bedacht, als ich wieder zum Sprechen ansetze. „Du hast mir gefehlt, Tante Mag."

Sie sieht von ihrem Tee auf und mustert mich einen Augenblick lang, als würde sie überlegen, ob ich es ernst meine, ehe sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen ausbreitet. „Lange ist's her."

Ich nicke und starre auf meine Hände.

„Du hat mir auch gefehlt, Avamava."

Ich muss lächeln, als ich den Spitznamen höre, den sie mir vor Jahren gegeben hat. Obwohl ich achtzehn bin, hört er sich nicht in die Jahre gekommen oder unpassend an.
Dennoch kann ich nicht verleugnen, dass ich mich gleichzeitig unheimlich schlecht fühle. Tante Mags ist enttäuscht. Sie würde es niemals vor mir zugegeben, doch ich habe sie verletzt, als ich sie nicht besuchte.
Monatelang. Jahrelang.
Ich glaube, ich habe sie zuletzt gesehen, als ich dreizehn Jahre alt war.

„Es tut mir leid", sage ich nochmal. Die Worte hören sich heiser an. Geflüstert, weil ich ein schlechtes Gewissen habe und es mir noch nie leicht gefallen ist, zu meinen Fehlern zu stehen geschweige denn sie laut auszusprechen.
Wo sie doch den Tod eines anderen Menschen bedeuten könnten.



AN: jup, tatsächlich ein neues Kapitel. Es tut mir leid, dass es so unfassbar lange gedauert hat. EL, besonders das Lektorat meines Debüts, hat mich unheimlich viel Nerven und Zeit gekostet. Jetzt, 15 Tage vor der Veröffentlichung, habe ich endlich mal wieder hier weitergeschrieben, und es fühlt sich gut an.
Ich hoffe, dass ihr hier noch dabei seid. Lest gerne nochmal die alten Kapitel, falls ihr nicht mehr wisst, um was es geht. Ich kann es euch nicht verübeln🙈

Hoffentlich hören wir nun öfter voneinander :)
Maren

Intelligent - Phase 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt