Weitere Fragen

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Eine Stunde nach Beginn der Vorlesung für Philosphie bei Dr. Jing schwangen die Eingangstüren auf. "Guten Morgen, Silvia. Ich bin froh, dass du heute doch noch hier bist. Immerhin kribbelt es mir schon unter den Fingern deine Gedanken zu der gestrigen Frage zu hören," begrüßte Dr. Jing Silvia, die schwer atmend im Eingang stand. Den ganzen Umweg zu der Uni war sie gerannt, obwohl sie rennen eigentlich hasste, hatte sie nicht ein Mal ihr Tempo verlangsamt. Schweiß lief über ihre roten und erwärmten Wangen. Die Blicke von den Anderen ruhten erneut auf ihr, wie als wäre sie verrückt geworden. Schnell sammelte sie die letzten Stücke an Integrität auf, die ihr noch blieben und lief mit hoch erhobenen Kopf nach  vorne zu der ersten Reihe. "Es tut mir leid, Dr. Jing, aber ich habe leider keine Antwort auf ihre Frage gefunden", entschuldigte sie sich bei ihrem Proffessor. Dieser betrachtete sie mit diesen warmen Rehaugen in denen sie versuchte irgendwelche Anzeichen zu finden, ob er enttäuscht oder wütend über ihre fehlende Antwort war. "Ich habe auch keine Antwort erwartet. Wieso solltest du auch eine Antwort auf eine Frage finden über die sich die größten Denker ihr ganzes Leben lang den Kopf zerbrochen haben. Denkst du wirklich so wenig von mir, dass ich dir eine so unmögliche Aufgabe erteilen würde?" "Nein, auf gar keinen Fall...Ich wollte nur..." "Setz dich erst ein Mal hin. Wir werden diesen Dialog nach der Stunde fortführen." Silvia nickte schwach lächelnd und ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl sinken. 

Mit zitternden Händen holte sie einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche. Während Dr. Jing seinen Vortrag vortsetzte schien seine Stimme immer mehr zu verblassen und das kratzende Geräusch ihres Kugelschreibers auf dem Papier schrie durch ihren ganzen Körper. Zuerst kritzelte sie bloß viele Linien übereinander ohne ein wirkliches Ziel zu verfolgen. Auf ein Mal entstand ein Auge. Und noch eins. Dann ein schwarzes Loch, das wie Haare wirkte. Der Umriss eines kantigen Gesichtes. Eine lange, spitze Nase. Unten ein in einen hohen Kragen gehüllter Hals. Und zum Schluss ein Mund. Immer wieder glitt der Kugelschreiber von einer Seite des Kiefers zu der Anderen bis der Mund völlig unkenntlich wurde. Erschrocken zuckte sie zusammen als jemand ein paar Sitze neben ihr mit einem lauten Schlag ein Buch zuklappte. Alles wurde wieder bedrängend laut und sie ließ ihren Stift los. Es war das Gesicht des Fremden in das sie auf dem Papier vor sich blickte. Das Gefühl der Kälte und die Angst kamen zurück. Viel zu kräftig schlug sie ihr Notizbuch zu und packte es in ihren Rucksack. Vielleicht würde sie es später verbrennen, denn sie wollte sein Gesicht nie wieder sehen. "Silvia"; ertönte die sanfte Stimme von Dr. Jing "wärst du so lieb und würdest noch kurz mit in mein Büro kommen." "Na klar", antwortete sie und war eher überrascht über sein Angebot, da normalerweise nie jemand dorthin durfte. 

Schweigend folgte sie dem kleinen kahlköpfigen Mann, der ihrer Meinung wie ein Pinguin watschelte. "Es ist etwas unordentlich. Ich hoffe, dass das dir nichts ausmacht", sagte Dr. Jing während er die Tür zu seinem Büro aufschloss. "Keine Sorge, ich bin die Letzte, die das tun würde", antwortete sie. Dr. Jing hatte eindeutig eine andere Vorstellung von "etwas unordentlich" als die meisten Menschen. Der geräumige Raum war bis auf zwei freie Sessel und ein großes Pult vollgepackt mit Büchern und irgendwelchen Kisten in denen wahrscheinlich noch mehr Bücher lagen. "Bitte, setz dich doch." Silvia setzte sich in einen der Sessel und konnte ihre Finger nicht von den vielen Büchern lassen. Dr. Jing setzte sich ihr mit einer Tasse Tee gegenüber ohne ihr eine Anzubieten, weil er wusste, dass sie Tee nicht besonders mochte. "Wieso wollten sie noch mit mir reden?", fragte sie nach. "Ich bin nur etwas besorgt, da du vorhin immer noch so verstört gewirkt hast. Wieso belastet die Frage dich so sehr, Silvia?" Irgendetwas in ihr weigerte sich ihm von der komischen Begegnung von vorhin zu erzählen. Vielleicht dachte sie selbst schon, dass sie verrrückt geworden und nur haluziniert hatte. Bei dem Schlafmangel wäre es auch gar nicht so abwägig. Und doch hat sich diese Berührung so echt angefühlt. "Ich finde nur nicht mal ansatzweise eine Antwort darauf. Immer wenn ich denke, dass ich auf dem richtigen Weg dorthin bin stellt es sich als Sackgasse raus. Aber sollte ich denn nicht wissen wer ich bin?", erlärte sie ihrem Proffessor. "Solltest du das denn?" "Ja! Oder nein. Vielleicht. Wieso ist das so kompliziert? Wieso kann das nicht so einfach wie der Rest sein?" "Ist das Leben denn einfach? Und wenn es das ist, wäre es dann noch lebenswert?" "Vermutlich nicht, obwohl viele ein einfaches Leben bevorzugen:" "Aber das gilt nicht für dich, oder?" "Was  wollen Sie mir damit sagen?" "Die anderen hatten alle eine eindeutige Antwort auf meine Frage gefunden und sie schienen auch zufrieden mit dieser zu sein. Das ist eine ziemlich einfache Art eine Antwort zu finden, findest du nicht? Immerhin nicht so einfach wie die ganze Nacht wach zu bleiben und seine eigenen Prinzipien zu vernachlässigen" "Woher wissen Sie..?" "Keine Sorge, ich verurteile dich nicht Silvia. Ich selbst verliere mich sogar heute noch in so manchen Gedanken. Was ich dir eigentlich damit sagen wollte ist, dass du dich nicht schlecht fühlen solltest nur weil du nicht den einfachen Weg genommen hast." "Und wie finde ich jetzt eine Antwort?" "Erst ein Mal wirst du diese ganz sicher nicht über Nacht finden und schon gar nicht eingesperrt in deinem Zimmer. Zerbrech dir nicht den Kopf. Dir wird sich die Antwort zeigen, sobald du so weit bist." "Wie können sie sich da so sicher sein?" "Das bin ich nicht. Und jetzt geh. Du hast bestimmt besseres in deinem Alter zu tun als einem alten Mann zuzuhören." "Eigentlich nicht." Dr. Jing lachte über ihre Sturheit. "Was ist daran so lustig?", fragte sie beleidigt nach. Silvia wollte nicht gehen solange er ihr nichts genaueres sagte was sie tun könnte, um ihre Antwort zu finden. Er erwartete doch nicht ernsthaft von ihr, dass sie einfach da sitzen und nichts tun würde bis ihr irgendwann die Antwort auf magische Weise entgegenflog! "Bis morgen Silvia", sagte Dr. Jing. "Na gut, aber dann werden sie mir einen richtigen Ratschlag geben", entgegnete sie und verließ beleidigt sein Büro. 

Nachdem die Türe klackend ins Schloss viel bedeckte eine bekannte eiskalte Hand ihren Mund und hielt sie davon ab wie wild loszuschreien. Mit poltertem Herzen drehte sie sich langsam um. Obwohl sie sich geschworen hatte, dass sie nie wieder in sein Gesicht blicken wollte, konnte sie sich nun auch nicht davon abhalten. War das Neugierde, dass sie gerade so fernsteuerte? Die Hand löste sich von ihr und zwei dunkelgrüne Augen blickten mindestens genauso schockiert zu ihr runter. "Hi...", sagte sie mehr aus Reflex. Der Fremde schwieg. Silvias Blick wanderte zu dem angenähten Kiefer was den Fremden zurückweichen ließ. War es ihm uangenehm? Ohne es zu merken wanderte ihr Blick weiter zu dem nackten und leicht trainierten Oberkörper unter dem dunkelblauen, fast schwarzen, Mantel, welcher mit Gold verziert war. Seine Hosen und Schuhe waren dagegen schlicht und schwarz und wiesen keinen einzigen schmutzigen Fleck auf. Fast schon surreal. Als sie ihm wieder in die Augen blickte waren diese weit aufgerissen und fixierten etwas hinter ihr. Verwirrt schaute sie über die Schulter nach hinten und sah eine Gruppe von Studenten, die auf sie zugelaufen kamen. Sie wollte sich wieder zu dem Fremden umdrehen, aber dieser war so schnell verschwunden wie er aufgetaucht war. 

Eine kleine GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt