Eine kleine Geschichte

Eine Unterrichtsstunde über Seelen

Die Stille von Alices Haus verschwand allmählich, während das Licht sich wieder in tausende Farben brach. Ein klackendes Fußgetrappel auf Stein wurde von einer schrillen Stimme verfolgt. Der Raum  war hell beleuchtet und spiegelte sich an den weißen Marmorwänden. Silvia hob ihre Hand, um diese vor dem grellen Licht zu schützen. Ihre Augen wanderten benebelt durch den Raum. Überall lag irgendein Schnick Schnack herum. Berge an Tennisball großen Glaskugeln stapelten sich an jeder Ecke und drohten jeden Moment auseinander zu brechen. Ein bekanntes Kichern drang zu ihr durch und ein roter Wollknäul stürmte an ihr vorbei. "Ich krieg dich noch!", schrie Isla und verschwand durch eine hohe Türe. 

Vor Silvia tat sich ein großer Schatten auf und blickte auf sie herab. Der Boden unter ihr war kühl und drückte unangenehm auf ihre Gesäßknochen. Silvia legte ihren Kopf vollständig in den Nacken, um erkennen zu können wer auf sie herabblickte. Eine dünne hochgezogene Augenbraue blickte ihr entgegen. Das runde Gesicht war übertrieben blass geschminkt und die Lippen in ein tiefes Rot gefärbt. Die in lange Handschuhe gekleideten Hände waren in die Hüfte gestemmt. Der runde Bauch wurde von einem auf Höchstleistung arbeitendem Korsett in Position gehalten und die Brüste, die so groß wie zwei Melonen waren, waren mit blumigen Mustern bestickt. Silvia stockte der Atem bei dem Anblick der Frau. "Willst du den ganzen Tag auf dem Boden sitzen oder stehst du auch Mal auf?", meckerte die Frau sie an. Sofort sprang Silvia auf die Beine und errötete beschämt. "Da du jetzt stehst, kannst du auch direkt wieder gehen. Und vergiss am Besten alles was du gesehen hast", befiehl sie Silvia. Ohne eine Antwort abzuwarten ging die Frau wieder und setzte sich an einen großen Steintisch von dem sie eine der vielen Gerätschaften in die Hand nahm. Ein kantiger und durchsichtiger Stein, der in eine Apparatur eingeklemmt war, begann sich vor der Frau  zu drehen. Mit Hilfe einer weiteren Apparatur floss Wasser auf den Stein und spritze zu allen Seiten weg. Die Schminke im Gesicht der Frau verschmierte jedoch nicht. Mit einer länglichen Feile fing sie an den Stein zu bearbeiten ohne das Tragen von Schutzkleidung. Silvia trat zögernd an das gegenüberliegende Ende des Tisches heran. "Entschuldigung, aber ich denke nicht, dass ich jetzt schon gehen kann", sagte Silvia. Der Stein verstummte und das Wasser floss ungehalten auf den Tisch und mischte sich mit dem fein glänzenden Staub. Die Frau musterte Silvia für einige Augenblicke von oben bis unten bis sie sich für eine Antwort entschieden hatte. "Wieso nimmst du nicht einfach die weisen Worte einer alten Frau an und gehst besser bevor es zu spät ist", antwortete sie. 

Bevor Silvia die alte Frau fragen konnte was sie meinte kam eine langhaarige Katze schreiend in den kleinen Raum gestürmt. Silvia zuckte zusammen, als diese auf den Tisch sprang und erstarrte sobald sie Silvia am anderen Ende bemerkte. Die eisblauen Augen der Katze fixierten sie weit aufgerissen. "Hab ich dich!", schrie Isla und zog die Katze vom Tisch. Die alte Frau lachte. Es war ein tiefes herzliches Lachen. Das Gegenstück zu ihrem strengen Äußeren. "Eines Tages bekommt Balu noch einen Herzinfarkt wegen dir Isi", sagte die alte Frau. "Dann hätte er eben ein schleimiger Frosch sein müssen, wenn er nicht möchte, dass ich ihn streichle", erklärte Isi. Die alte Frau schüttelte nur lächelnd den Kopf über das Mädchen. Jedoch verschwand dieses Lächeln sofort bei dem Anblick von Silvias blassem Gesicht. "Wenn du dich weiterhin weigerst zu gehen, dann bin ich wohl oder übel gezwungen dich weg zu bringen", drohte die alte Frau Silvia. Isla ließ vor lauter Schreck die Katze fallen, die sich schnell auf eines der hohen Wandregale rettete. Ein roter Wirbelsturm stellte sich wie ein tollwütiger Wachhund vor Silvia. "Sie kann noch nicht gehen!", schrie Isla die alte Frau an. Diese wurde plötzlich ganz weich in ihrem Gesicht und ließ ihre Augen erschöpft nach unten fallen. "Es ist hier in der Seelenwelt zu gefährlich für einen Menschen, dass weißt du doch Isla", sagte die alte Frau. Die Worte brachten Isla kurz zum Zögern. "Ich möchte mich nur von jemandem verabschieden können. Nur ein einziges lebe Wohl. Dann bin ich sofort wieder weg, wie als wäre nie etwas passiert", brach es aus Silvia heraus mit Tränen in den Augen. 

Ohne zu antworten trat die Frau an eine Kommode und öffnete eine kleine Schublade ganz oben. Aus dieser holte sie ein kleines Holzkästchen über das sie ganz vorsichtig mit ihren dicken Fingern fuhr. Silvia konnte deutlich die Last spüren, als die alte Frau ein Mal tief ein und ausatmete bevor diese sich wieder umdrehte. Nun standen auch Tränen in ihren Augen und spiegelten das helle Licht in dem Raum. Mit kleinen Schritten kam die Frau auf Silvia und Isla um den Steintisch herum zugelaufen. "Es ist schwer jemanden hier zu finden, wenn nicht sogar unmöglich als Lebender. Doch wenn wir deinen Sintro finden, dann hättest du zumindest eine Chance, wenn auch eine Kleine", sagte die alte Frau und reichte ihr das kleine Holzkästchen. Mit rasendem Herzen nahm Silvia das Kästchen entgegen und betrachtete es argwöhnisch während es federleicht auf ihrer Hand lag. "Öffne es", sagte die alte Dame und Silvia nahm vorsichtig den Deckel des Kästchens mit ihrer anderen Hand ab. In dem Kästchen kam eine gläserne Scheibe zum Vorschein auf der am Rand entlang viele Symbole eingraviert waren. "Was ist das?", fragte Silvia und konnte den Blick nicht von der Scheibe nehmen. "Ein Kompass!", schrie Isla begeistert und hüpfte auf und ab. Ein warnender Blick der alten Dame reichte und Isla hielt wieder still. "Was macht der?", fragte Silvia erneut. "Nehme ihn doch mal heraus", antwortete de alte Frau. Das ließ Silvia sich nicht zweimal sagen und griff in das Kästchen. Die Scheibe fühlte sich schwerelos und angenehm warm in ihrer Hand an während Silvia die Einkerbungen nachfuhr. Sie stellte das Kästchen auf den Tisch und berührte die Scheibe auch mit ihrer anderen Hand. Als ein weißes Licht in der Mitte aufleuchtete setzte Silvias Herz für einen Moment aus und sie nahm ihre Hand sofort wieder weg. Mit ihrem Blick suchte sie Hilfe bei der alten Frau, welche sie mit ihrer starren Miene ansah. Die alte Frau pfiff kurz durch ihre Lippen und ein braunes Wollknäul bewegte sich oben auf einem Regal. Wie in Zeitlupe sprang der Kater erst auf eine Kommode neben dem Regal und anschließend auf den dreckigen Boden. Daraufhin sprang er erneut auf den Tisch und schlief dort direkt wieder ein. "Du unnützes Ding!", beschwerte sich die alte Frau und nahm Silvia den Kompass aus der Hand. "Lass es mich dir zeigen", sagte sie. Sobald sie ihre zweite Hand an die Scheibe legte glühte die Mitte wieder auf. Nur das diesmal das Licht nicht weiß, sondern rötlich schien. Nach ein paar Sekunden wanderte das Licht an den Rand der Scheibe und glühte stärker je näher die Frau an den Kater herantrat. "Siehst du? Der Kompass zeigt dir wo sich dein Sintro befindet", sagte die alte Frau. "Aber wozu brauche ich den?", fragte Silvia kleinlaut. "Er ist dein persönlicher Bodyguard!", schrie Isla dazwischen. "Ganz so simpel ist das nicht Kleines", sagte die alte Frau. "Ein Sintro begleitet eine Seele von deren Geburt bis zu deren Tod. Er beschützt sie, damit diese ihren Frieden finden kann nach dem Tod und nicht so wie wir hier festhängt", erklärte die Frau überraschend einfühlsam. "Also hat jeder einen anderen Sintro?", fragte Silvia. "Sobald die eine Seele, die der Sintro begleitet hat ihren Frieden findet, wählt er eine Neue aus." "Und wie soll mir mein Sintro helfen die Person zu finden, die ich suche?" "Da diese Person dir offensichtlich sehr nahe stand wird auch dein Sintro sie sehr gut kennen. Nur mit dem Unterschied, dass dieser dessen Seele wie ein Spürhund finden kann." Silvia nickte und versuchte die vielen neuen Informationen so schnell wie möglich zu verarbeiten. "Willst du es noch ein Mal versuchen?", fragte die alte Frau. Silvia nickte erneut und nahm den Kompass wieder entgegen. Diesmal zog sie ihre zweite Hand nicht direkt wieder weg und der Kompass erleuchtete erneut weiß.