Reise in die Vergangenheit

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Noch an dem gleichen Abend erhielt Dr. Jing eine E-Mail Silvia würde am nächsten Tag nicht zur Uni kommen können. Das wäre die erste Vorlesung für Philosophie, die sie verpassen würde. Als Ausgleich hatte sie sich einen Haufen Bücher in die Tasche gepackt, die sie eh nicht lesen würde.  

Um Mitternacht landete ihr Flugzeug auf dem Flughafen von Athen. Sie holte ihr gemietetes Auto mit einem Taxi ab und ließ sich hinter das alte Lenkrad sinken. Ihre Reisetasche landete plump auf dem Beifahrersitz. "Dann wollen wir mal", sagte sie zu sich selbst im Rückspiegel. Tief ein- und ausatmend legte sie den ersten Gang ein und fuhr mit quietschenden Reifen los. Die ganzen zwei Stunden nach Delphi fuhr sie mit offenem Dach durch und betrachtete die hell leuchtenden Sterne am Horizont. 

Am Straßenrand unterhalb des Orakels von Delphi brachte sie den Wagen zum Stehen. Schweigend lief sie den weiten Weg nach oben bis sie sich oberhalb des Orakels auf eine Stufe des Theaters setzte. Ihre Augen beobachteten aufmerksam das Tal und wie es mit der Zeit immer mehr mit Licht geflutete wurde durch die aufgehende Sonne. 

"Es ist lange her, mein alter Freund", sagte sie in die Stille. Der Wind wehte durch ihre dunkelbraunen Locken und trocknete eine Träne, die über ihre Wange rollte. "Tut mir leid, dass ich dich nicht schon früher besucht habe", fuhr sie ihren Monolog fohrt. "Du wirst mir nicht glauben was passiert ist." Bei dem Gedanken an den Fremden musste sie unwirrkürlich über sich selbst Lachen. "Ich glaube ich habe jetzt doch noch den letzten Funken Verstand verloren! Ich habe gestern jemanden getroffen der sich einen menschlichen Kiefer über seinen Mund genäht hat. Aber das ist noch nicht ein Mal das Verückteste. Er hat sich vor meinen Augen in Luft aufgelöst!" Silvia fing unbewusst an Zeichen mit ihren Händen zu formen. "Vielleicht gehe ich doch zur Therapie wie es Mama immer vorschlägt. Sie macht sich immer noch Sorgen um mich, auch wenn ich ihr jedes Mal, wenn wir uns sehen versichere, dass es mir gut geht. Aber du weißt ja wie sie ist." 

Erschöpft legte sie sich auf den kühlen Stein und starrte gen Himmel. Es war das perfekte Frühlingswetter. Blauer Himmel. Ein paar flauschige Wolken. Die warme Sonne. Ein kühler Wind. Alles schien so perfekt. Doch Silvias Herz fühlte sich an diesem Ort so schwer an. Sie glaubte sogar noch ihre tobenden Schritte von damals hören zu können. Ein lautes Gelächter ertönte aus der Ferne und weckte Silvia aus ihren Gedanken. Die ersten Touristen kamen, was ihr Zeichen zum Aufbruch war. 

Mit ihrem Mietwagen fuhr sie in die kleine Stadt Delphi zu einem Anwesen am Berghang. Sie parkte vor dem Eingang und schnappte ihre Tasche. Ihre Hand zögerte kurz bevor sie die Klingel an der Einganstüre drückte. Schritte ertönten von der anderen Seite und ihr Herz begann zu raßen. Vorsichtig öffnete sich die Türe und eine schlanke Frau mit grauem und langem Haar kam zum Vorschein. Als sie Silvia erkannte leuchteten ihre grün-gelben Augen auf. "Silvia! Dich habe ich als Letztes erwartet. Lass dich umarmen Liebes", begrüßte die Frau Silvia und schloss sie in eine feste Umarmung. Silvia erwiderte diese herzlich und spürte deutlich wie ihr ganz warm ums Herz wurde. Die Frau brachte wieder Abstand zwischen sie und legte ihre Hände auf ihre Wangen. "Wie erwachsen du doch geworden bist. Ist es wirklich schon so lange her?" "Tut mir leid, dass ich euch nicht schon früher besucht habe", entschuldigte Silvia sich bei ihr. "Ach, dass ist doch halb so schlimm. Hauptsache du bist jetzt hier. Komm rein, du hast bestimmt einen riesen Hunger nach der langen Reise", antwortete die Frau und lief voraus. 

Silvia schloss die Tür hinter sich und folgte ihr in das riesige Esszimmer mit der Offenküche und der hohen Fensterwand. "Setz dich ruhig. Ich hol dir schnell etwas Leckeres", sagte die Frau. Silvia wollte widersprechen, weil sie ihr keine Umstände machen wollte, aber sie war schon in der Küche und holte unzählige Sachen aus den Schränken. "Und was treibt dich hierher, mein Liebes?", fragte sie Silvia. "Ich hatte nur einen sehr anstrengenden Tag gestern gehabt und dachte, dass ich mich hier auch etwas von der Uni erholen könnte. Ich kann mir natürlich auch ein Hotelzimmer nehmen wenn ich euch zur Last falle, Alice", antwortete Silvia. Alice kam mit einer riesigen Obst- und Früchteplatte hinter der Kochinsel hervorgelaufen. Silvia nahm diese entgegen und stellte sie auf den langen Esstisch aus Marmor. "Jetzt ess erst ein Mal etwas und mach dir nicht so einen Kopf. Du weißt, dass du hier so lange bleiben kannst wie du willst", sagte Alice und stellte noch ein Glas mit Orangensaft neben die Platte. Silvia gab nach und setzte sich. Bei dem Anblick der Papaya konnte sie nicht wiederstehen und sie piekste gleich mehrere Stückchen mit der Gabel auf und schob sie in ihren Mund. 

Alice setzte sich ihr gegenüber und musterte Silvia besorgt. "Wie geht es dir? Deine Mutter hat mir damals von deinem Selbstmordversuch erzählt. Du bist doch nicht etwa hier.." fragte Alice so leise, wie als hätte sie Angst, dass irgendjemand sie hören könnte. Silvia verschluckte sich fast an ihrem Orangensaft und wischte sich den Mund mit ihrem Ärmel ab. "Bitte nicht du auch noch Alice", antwortete Silvia. "Ich weiß, deine Mutter kann manchmal etwas überfürsorglich sein, aber du musst auch ihre Seite verstehen. Der Tod des eigenen Kindes ist das Schlimmste was einer Mutter passieren kann." "Es tut mir leid, Alice. So meinte ich das nicht. Ich habe es nur langsam satt immer wie eine zerbrechliche Vase aus Porzelan von ihr behandelt zu werden. Es ist immerhin schon so lange her." "Gestern waren es genau drei Jahre, seitdem..." Silvia legte ihre Hand auf die von Alice. "Er war wirklich jemand Besonderes", sagte Silvia zu Alice und versuchte ihr etwas Trost zu sprechen. Alices Lippen formten sich zu einem schwachen Lächeln, welches Silvia erwiderte. 

Die Eingangstüre wurde geöffnet und unterbrach die Beiden. Nikos wurde mit einem liebevollen Kuss von Alice begrüßt. Als der riesige Mann Silvia entdeckte erdrückte er sie in einer langen Umarmung. "Hallo, Papa Bär" formte sie mit ihren Händen was die weißen Zähne zwischen Nikos Bart zum Vorschein brachte. "Habe ich euch bei etwas unterbrochen?" fragte Nikos per Gebärdensprache. "Wir haben uns nur etwas über Phileas unterhalten", antwortete Alice und formte die passenden Zeichen zu ihren Worten. Bei dem Namen überkam Silvia plötzlich ein Gefühl der Ohnmacht und sie glaubte sich jeden Moment übergeben zu müssen. "Ich würde mich etwas oben hinlegen. Ich habe nur ein paar Minuten auf dem Flug schlafen können", sagte Silvia zu den beiden, während ihre Hände nur vage die Bewegungen ausführten. "Aber natürlich, ruh dich nur aus", antwortete Alice verständnisvoll. Silvia nickte dankend und ging mit ihrer Tasche die Marmorstufen nach oben. Zum Glück war ihr altes Zimmer unberührt, sodass sie sich einfach nur auf das Bett fallen lassen musste. Es dauerte nicht lange bis ihr Schluchzen verstummte und sie in Tränen getränkt in einen tiefen Schlaf viel.

Eine kleine GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt