Berührung des Todes

50 5 1
                                    

"Wer bin Ich, wer bin ich, wer bin ich...", murmelte Silvia vor sich her während sie durch die belebte Innenstadt Münchens eilte. Sie starrte auf den Boden vor ihren Füßen und veruschte Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen. Bald müsste sie eine Antwort auf die Frage gefunden haben. Herr Jing, ihr Philosophieproffessor, würde bestimmt enttäuscht von ihr sein, wenn sie auf so eine einfache Frage keine Antwort hätte. Bisher hatte sie ihn immer mit jeder Antwort überraschen oder zumindest kurz zum Grübeln bringen können. Doch diesmal war er derjenige, der sie sprachlos zurückgelassen hatte. "Wer bist du?" Mit diesen Worten hatte er sie bei ihrer letzen Stunde begrüßt. Wie immer war sie die Erste gewesen, weil sie normalerweise überpünktlich war. Heute würde er schon genug enttäuscht sein, weil sie zu spät kommen würde. Die ganze Nacht war sie auf der Suche nach einer Antwort wachgelegen. "Aus wissenschaftlicher Sicht gehöre ich zu der Gattung Homo Sapiens und besitze zwei X-Chromosome, aber aus philosophischer Sicht wäre ich ein Lebewesen mit einem Geist", hatte sie selbstsicher geantwortet, wobei ihr der Stolz wortwörtlich aus der Nase gelaufen ist. Herr Jing gab nie eine wirkliche Antwort auf eine Frage, das war sie bereits gewohnt, aber diesmal hatte er sie solange schweigend angesehen, dass sie das Gefühl hatte seine dunklen Augen könnten direkt in ihre Seele blicken - wenn sie eine hätte. "Du bist für heute entlassen Silvia" Sie war rasend vor Wut geworden, dass er sie so leicht ohne auch nur den Hauch einer Ahnung, ob ihre Antwort stimmte oder nicht, abwimmeln wollte. "Ich gehe erst, wenn sie mir sagen, ob meine Antwort richtig oder falsch ist!", hatte sie ihn angeschimpft und es in der nächsten Sekunde direkt breut, obwohl sie wusste, dass Herr Jing ihre Wutausbrüche nie persönlich nahm. "Woher soll ich das wissen?" Diese Frage war es die sie nicht nur zum Schweigen gebracht hatte, sondern sie quasi aus dem Gebäude hinausrennen ließ. Sie hatte den starken Drang gespürt mit ihren Gedanken alleine zu sein und sobald sie zu Hause in ihrem kleinem Zimmer im Dachgeschoss angekommen war strömten sie auch schon aus ihr heraus wie aus einem Wasserfall. Und nichts was sie auch tat brachte sie zum Schweigen. Bis sie frontal in jemanden hineinlief. Der Schlag traf sie so unewrwartet, dass sie nach hinten auf den Boden fiel und sich mit ihren Händen auffangen musste. Silvia musste ihre Augen zusammenkneifen wegen der blendenden Sonne, als sie nach oben blickte, um zu sehen gegen was sie gelaufen war. Oder eher gegen wen, denn ein junger Mann in eine lange dunkelblaue Jacke gehüllt und grauem Haar ragte über ihr auf. Er hielt ihr seine Hand entgegen, welche sie dankend entgegennahm. Doch als sie die Kälte bemerkte, die von ihr ausging und in ihre Hand zu fließen schien zog sie sie rasch wieder zurück. Sie kannte dieses Gefühl und sie hatte gehofft es nie wieder spüren zu müssen. Zu spät. Hastig stand sie auf, damit der Fremde sie nicht für unhöflich hielt, sondern lediglich für Jemanden, dem seine Selbständigkeit sehr wichtig war. Vorsichtig rieb sie den Schmutz von ihren Händen und lächelte den Fremden freundlich an. Dieses Lächeln wandelte sich schnell in bloßes Entsetzen, als sie bemerkte, dass der Fremde sich einen menschlichen Ober- und Unterkiefer mit spitz geschliffenen Zähnen über seinen Mund genäht hatte. Silvia hieb sich schockiert die Hände vor den Mund und suchte mit ihren Blicken die Menge an Leuten um sie herum ab, ob Irgendjemand das Gleiche wie sie sehen konnte oder, ob sie nun doch den letzten Funken an Verstand verloren hatte. Doch niemand schien den Fremden auch nur zu beachten. Stattdessen weilten alle Blicke auf ihr, wie als wäre sie die Verrückte hier. Der Fremde wollte erneut nach ihrer Hand greifen, doch sie wich zurück und rannte so schnell ihre Füße sie tragen konnten.

Eine kleine GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt