Julie's Sicht
Die nächste Woche verlief sehr gewohnt. Ich hatte zwar meine beste Freundin nicht mehr an meiner Seite, und es war immer noch sehr schrecklich für mich, aber mein Leben musste ja weiter gehen. Also ging ich jeden Morgen alleine zur Uni, und jeden Nachmittag alleine wieder zurück.
Heute wollte Marie's Familie vorbeikommen, um die restlichen Sachen abzuholen, also entschied ich mich dazu, mit dem Auto zur Uni zu fahren, damit ich heute Nachmittag schneller zu Hause bin.
Als ich nach Hause kam, standen sie bereits vor der Tür. Marie's Mama, ihr Papa, ihr Bruder und ein Mädchen mit hüftlangen, braunen Haaren.
Nachdem ich alle begrüßt hatte, fiel mir ein, wo ich dieses Mädchen schonmal gesehen hatte. Sie hatte Marco Reus, damals in der Sparkasse, so angezickt, dass er doch kommen sollte, weil sie fertig war.
Dominik stellte sie mir als seine Freundin vor: "Ich bin Dominik. Der Bruder von Marie. Und das ist Amelia, meine Freundin.", grinsend gab ich ihnen die Hand und sagte: "Ich bin Julie."
"So, dann kommt doch alle mal mit rein, ich habe schon das meiste zusammengepackt.", sprach ich in die Runde, und hörte nur ein "Das ist auch besser so. Können wir schneller wieder hier weg.", von Marie's Vater. Ich drehte mich zu ihnen und wollte grade etwas sagen, da zog mich Amelia zu sich und flüsterte mir etwas ins Ohr.
"Bist du nicht die aus der Sparkasse? Die ihre Karte im Automaten vergessen hat?"Ich wäre am liebsten im Boden versunken, und nickte nur grinsend auf diese Frage.
Als wir alles eingepackt hatten, lud mich Monika, mit der ich mich sehr gut verstand, noch auf ein Eis ein.
"Und Sie?", fragte die Bedienung und grinste in meine Richtung. "Ich nehme eine Waffel mit Eis und heißen Kirschen."
Dominik und Amelia waren schon weiter gefahren. Sie wollten noch Amelia's Bruder besuchen, wenn ssie schonmal in Dortmund sind.
Langsam kamen mir Ideen. Ist Amelia vielleicht die Schwester von Marco? Vielleicht war sie an dem Tag in Dortmund, um ihren Bruder zu besuchen, und deshalb wollte Dominik auch was mit seiner Schwester machen.
Marie's Vater würdigte mir den ganzen Abend kein Blick. Ihre Mutter hingegen wurde mir immer sympatischer. Und plötzlich kam die Frage vor der ich den ganzen Tag Angst gehabt hatte: "Möchtest du nicht vielleicht auf der Beerdigung etwas sagen? Zu eurer Freundschaft oder so?"
Die Beerdigung ist schon morgen, aber ich wollte mich drauf einlassen. Ich würde etwas sagen, und wenn ich da vorne in Tränen zusammenbrechen würde, ich war es Marie schuldig. "Na gut, ich werde es machen. Aber ich kann nicht versprechen, dass es gut wird."
Darauf grinste Monika nur.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, bereute ich es sehr, dass ich gestern zugesagt hatte. Ich hatte mir gestern Abend ein paar Notizen gemacht, was ich sagen könnte, aber da ist nicht viel raus geworden.
In der Kirche setzte ich mich alleine nach ganz hinten, was ich im nächsten Moment sofort wieder bereute, weil ich gleich, um etwas zu sagen, den ganzen Weg nach vorne laufen müsste. Aber ich wollte mich jetzt auch nicht mehr umsetzten, das war mir dann doch zu blöd. Also blieb ich dort sitzen und wartete auf meinen Part.
Bei der Rede der Familie musste ich mir echt die Tränen unterdrücken. Und auf einmal sagte Dominik: "Marie hatte eine sehr besondere Freundin. Ihr Name ist Julie. Ich selbst durfte sie erst gestern kennenlernen. Sie erinnert mich an meine Schwester. Ich kann verstehen, dass sie die besten Freundinnen waren, sie haben so viel gemeinsam. Julie, ich möchte dich bitten jetzt nach vorne zu kommen, und selbst über eure Freundschaft zu sprechen."
Mit zitternden Beinen stand ich auf. Ich ging langsam mit gesenktem Kopf den Mittelgang entlang, merkte, wie mich alle anstarrten, bis vorne zum Lesepult.
Dominik klopfte mir auf die Schulter und flüsterte: "Du schaffst das, und denk nicht zu viel an Marie."
Ich stellte mich ans Pult und fing einfach an.
"Ich bin unsagbar traurig. Marie fehlt mir so sehr! Nichts mehr wird sein wie früher. Da wird immer eine Lücke bleiben, die Marie bisher ausfüllte.
Mit ihr bin ich wunderbare Wege gegangen. Wir haben gelacht, gefeiert, gehofft.
Mit ihr bin ich aber auch durch dunkle Gassen gegangen, haben gebangt, geweint, und doch wieder gehofft.
Sie ist nicht mehr da und ist doch ganz nah bei mir. Denn sie wird ewig in meinen Gedanken, in meinen Erinnerungen und in meinem Herzen sein. Da hat sie einen Platz.
Ich werde sie nicht vergessen, denn ich bin für immer dankbar, dass ich sie bei mir hatte."Auf einmal ging mir zu viel durch den Kopf. Da war wie ein Flashback, wie wir uns kennenlernten. Unsre erste Begegnung. Als wir uns entschieden zusammen zu ziehen. Da waren so viele Gedanken. Und zu guter Letzt erinnerte ich mich, wie sie, nach dem öffentlichen Training, im Auto neben mir saß, und von jetzt auf gleich sauer war. Danach hatte sie nie wieder ein Wort mit mir geredet. Plötzlich wurde mir das alles zu viel. Ich brach in Tränen aus, doch ich muss hier weitermachen. Das bin ich Marie schuldig.
"Ich kannte sie noch nicht lange. Doch als wir uns nur eine Woche kannten, wurden wir zu den besten Freundinnen. Ich wusste, dass sie etwas Besonderes ist.
Wir gingen zusammen nicht nur durch Sonnenschein. Wir hatten oft dunkle Zeiten, wie auch vor zwei Wochen. Wir sind im Streit auseinander gegangen. Ich will nicht, dass das alles hier endet. Ich würde gerne die Zeit zurückdrehen, um die schönsten Momente mit Marie, mit meiner besten Freundin, nochmal zu erleben.
Es hat sie zu früh getroffen. Sie war so ein guter Mensch.
Jeder der sie kannte, weiß es. Marie war so fürsorglich. Sie konnte niemanden alleine im Regen stehen lassen..."Mit den Worten wurden meine Tränen immer mehr, und ich stürmte raus. Ich konnte nicht weiter, es ging einfach nicht.
Ich setzte mich auf eine Treppe vor der Kirche und begann richtig zu heulen. Am liebsten wollte ich einfach nach Hause. Und damit meine ich nicht meine kleine Wohnung in Dortmund. Nein, ich wollte zu meinen Eltern. Doch das ging nicht. Genauso wie ich mir vor zehn Jahren klar machen musste, dass ich meine Eltern nie wiedersehen würde, musste ich mir jetzt klarmachen, dass ich Marie nie wiedersehen würde.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um, und sah, dass es Amelia war. Und neben ihr stand nicht, wie erwartet, Dominik, sondern Marco.
Er setzte sich neben mich, um legte seinen Arm um mich. Ich merkte, wie er mir was ins Ohr flüstern wollte: "Was du gesagt hast, das war wunderschön. Und es tut mir leid für dich, dass du deine beste Freundin verloren hast. Aber es wird alles wieder gut werden, das verspreche ich dir."