Four

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Yoongi machte die ganze Nacht über kein Auge zu. Wenn er die Augen schloss, schoss sofort das traurige Gesicht des Jungen in seine Gedanken und dann war all die Müdigkeit dahin.

Die Stille war erdrückend, die Sekunden erschienen ihm wie ganze Minuten.
Nur selten war ein Geräusch zu hören und die Dunkelheit hinterließ in ihm ein eher weniger schönes Gefühl.

Der Morgen rollte langsam herein, und Yoongi hatte nur wenige Minuten dösen können. Er hörte Stimmen von draußen, die ersten Leute schienen wohl die Arbeit des Tages aufzunehmen. Yoongi seufzte erschöpft. Er setzte sich auf, sah sich um und rief sich die Augen.

Viel Zeit zum Verschnaufen blieb ihm aber nicht, denn die Tür der Krankenstation flog krachend auf.

"Guten Morgen!"

Taehyung stand im Eingangsbereich, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, wie gestern schon.

"Ich dachte ich schaue etwas früher vorbei, ich bin eher wach geworden und außerdem wird Seokjin heute bestimmt eher kurz vorbeischauen, gestern hatte er ja so viel zu tun! Übrigens redet schon das ganze Dorf über dich - die sind alle total neugierig und wenn du Glück hast, lässt dich Joon-hyung bald mit allen zusammen essen, ist doch großartig, oder?", plapperte Taehyung ohne unterlass, ließ Yoongi auch gar keine Zeit, darüber nachzudenken, was er gesagt hatte, sondern begann gleich damit, seinen Verband erneut zu wechseln.

Yoongi blendete das weitere Gerede größtenteils aus und hang eher seinen eigenen Gedanken nach, die sich immer noch um seine Eltern und den Omega, dessen Namen er noch nicht kannte, drehten. Sein Kopf schwirrte. Bevor er sich stoppen konnte, stellte er die Frage, die ihm auf der Zunge brannte.

"Hey, uhm...der Junge, der mir immer die Mahlzeiten bringt...", er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, da redete Taehyung ihm auch schon rein.

"Du meinst Jiminie?"

"Jiminie?"

Taehyung lächelte breit. "Das ist mein Spitzname für ihn, aber eigentlich nennt ihn hier jeder so, er ist sowas wie mein bester Freund, man könnte auch sagen, platonischer Seelenverwandter."

Yoongi zog verwirrt eine Augenbraue in die Höhe.

"Ich hab ihn selbst nach seinem Namen gefragt, aber er wollte mir nicht antworten..."

Taehyung's zuvor fröhlicher Ausdruck wurde plötzlich dunkler, fast kühl. Er befestigte zuerst das Ende des Verbands um seinen Kopf, bevor er weitersprach.

"Er redet nicht."

Das war alles, was er dazu sagte. Yoongi traute sich nicht, weiter nachzufragen, offensichtlich hatte er Salz in eine Wunde gestreut, von der er gar nicht gewusst hatte. Plötzlich fühlte er sich schuldig. Und auch wenn weitere Fragen aufploppten und ihm Taehyungs Ausführung nicht reichte, um das Mysterium aufzuklären, hielt er den Mund.

Die Stille, die folgte, war äußert unangenehm. Auch Taehyung sagte nichts weiter, dabei hatte Yoongi geglaubt, dass dieser vermutlich niemals über längere Zeit still bleiben konnte. Während der Omega die restlichen Verbände wieder im Schrank verstaute, sah er selbst unentwegt auf seine eigenen Hände, versuchte, das gerade Erfahrene zu verarbeiten und einzuordnen.

"Ich muss dann los...", meinte Taehyung dann plötzlich. Er sah aus, als wöllte er noch etwas sagen, öffnete wieder den Mund, nur um ihn ein paar Sekunden später wieder zu schließen. Sein Blick wendete sich ab, er drehte sich zögernd um und verließ dann schnellen Schrittes die Krankenstation. Diesmal schloss er die Tür leise.

Wieder saß Yoongi da, starrte der gehenden Person hinterher und sein Blick verließ auch dieses Mal für längere Zeit nicht die Tür, die ins Schloss gefallen war.

Er hatte so eben offensichtlich den Tag von Taehyung versaut, und er wusste nicht einmal, wieso.

Yoongi verbrachte weitere Stunden damit, das Essenstablett vom gestrigen Tag anzustarren und seine Gedanken weiterhin kreisen zu lassen. Seokjin erschien bis Mittags nicht, entgegengesetzt zu Taehyung's Vorhersage.

"Da hast du ja eine ganz schöne Lawine verursacht.", war das erste, was Seokjin zu ihm sagte, als er kurz nach dem Mittag die Krankenstation betrat.

Schuldbewusst lies Yoongi den Kopf hängen.

"Taehyung ist heulend zu mir gelaufen und ich hab etwa eine Stunde gebraucht, ehe ich ihn beruhigen konnte.", meinte der Omega. Er sah ihn nicht unbedingt vorwurfsvoll an, aber sein Gesichtsausdruck war dennoch hart.

"Tur mir-", er kam wieder nicht dazu, zu antworten.

"Ist nicht deine Schuld. Zumindest nicht wirklich. Es ist eigentlich nicht meine Aufgabe dir die Geschichte zu erzählen, aber damit du beruhigt bist: Jimin und Taehyung haben keine besonders leichte Zeit gehabt. Bei Jimin hat es nur deutlich mehr Spuren hinterlassen."

Seine Erklärung war stimmig und präzise genug, damit Yoongi sich einen Reim darauf machen konnte. Er blieb zwar neugierig, aber respektierte, das Seokjin nicht mehr sagen konnte und wollte.

"Nunja. Wechseln wir das Thema. Taehyung geht es besser und er wird es dir sicher nicht nachtragen, das kannst du mir glauben. Er selbst weiß ja auch, dass du davon nichts wissen konntest.", meinte er nach einer Weile. "Hat er deinen Verband gewechselt?"

Yoongi nickte nur.

"Gut. Ich denke deine Wunde wird nicht mehr allzu lang brauchen, ehe sie soweit verheilt ist, dass du dir keine Infektionen mehr einfangen kannst. Ich denke morgen kannst du hier raus."

Während Seokjin Kisten hin und her trug und die Station aufräumte, hing Yoongi weiterhin seinen Gedanken nach. Er bekam auch jetzt, da er etwas mehr wusste, Jimin's (?) Gesicht nicht aus dem Kopf. Vielleicht wurde er hier tatsächlich noch verrückt. Dazu wusste er immer noch nicht, wie er mit dem Tod seiner Eltern umgehen sollte. Ob sie ihn angelogen hatten, damit er nicht abhauen würde? Er wollte es glauben, er wollte glauben, das Namjoon ihn angelogen hatte. Aber erinnerte sich an deren Gesichter, und etwas, dass aussah wie ehrliches Mitgefühl.

Mitgefühl.

Jeder hier behandelte ihn mit Vorsicht und Fürsorge. Yoongi kam nicht umhin, es als Trick zu betrachten, um ihn um ihre Finger zu wickeln. Sein Zuhause war nicht hier - oder irgendwo sonst. Er gehörte in die Berge, war dort aufgewachsen, dort stand das Haus seiner Eltern. Wie sollte er glauben, dass irgendetwas, was sie sagten, der Wahrheit entsprach? Waren das alles Lügen? Oder nur ein Teil davon?

Yoongi raufte sich frustriert die Haare. Er war verwirrt, verängstigt, wütend, alles zugleich. Er hatte niemals gelernt, mit diesen Emotionen umzugehen, musste es schließlich auch nie. Er musste sich entscheiden, und das schnell. Er konnte nicht zulassen, dass sich irgendjemand - auch nicht Jimin - in sein Herz grub und ihn schlussendlich an seinem Fortgehen hindern konnte.

Er ballte seine Hände zu Fäusten.

Er brauchte einen Plan.

ICED HEARTSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt