Seven

193 12 4
                                    

Die nächsten Tage verliefen ruhig, entgegengesetzt zu Yoongi's eingehender Einschätzung. Auch, wenn er immer noch Schwierigkeiten hatte, sich auf die neue Situation einzustellen, gelang es ihm doch zunehmend besser, die Vergangenheit zu akzeptieren. Natürlich hing ihm der Tod seiner Eltern noch nach, aber Namjoon's Erklärungen halfen dabei, die Trauer besser zu bewältigen. Vielleicht war es auch besser so, dass sie nicht mehr auf dieser Erde wandelten, so viel Schmerz, wie durch sie entstanden war.

Es lag nun in Yoongi's Verantwortung, diese Fehler und Grausamkeiten auszubügeln. Gemeinsam mit Hoseok und Namjoon - so oft sie konnten - hatten sie bereits über mögliche Zukunftsperspektiven gesprochen. Sicher war dabei nur eins: Yoongi wollte seinen Clan aus dem Leid herausführen. Seine Heimat waren nach wie vor die Berge, aber die Zukunft seines Clans sollte nicht auf kargem Fels leben, fast ganzjährig von Schnee umgeben.

Je näher er die Lebensweise von Namjoon's Clan kennen lernte, desto mehr sagte sie ihm zu. Hier kümmerte man sich umeinander und auch die schwächsten Mitglieder bekamen eine angemessene Aufgabe. Niemand wurde ausgegrenzt oder wie Dreck behandelt, nicht einmal die Gefangenen. Der Sanftmut der Leute auch gegenüber Yoongi (auch wenn er manchmal noch skeptische Blicke erhielt) faszinierte ihn.

Namjoon hatte bereits angeboten, ihre Clans näher zusammenzuführen, aber Yoongi wollte dennoch etwas weiter darüber nachdenken. Er war in einer privilegierten Lage. Es gab keine Versicherung dafür, dass sein Clan zustimmen und den Groll, der Jahre geherrscht hatte, so einfach begraben würden. So sehr Yoongi es sich auch wünschte, dass man die vergangenen Jahre einfach ausradieren konnte - es war unwahrscheinlich. Es würde viele weitere Jahre dauern, bis es in greifbare Nähe rücken würde.

Und es gab noch ein weiteres Problem. Er wollte eigentlich gar nicht darüber nachdenken, so fremd war dieses Gefühl für ihn, aber erwischte sich immer häufiger dabei, wie er nach Jimin Ausschau hielt. Er fühlte sich wie ein Stalker, aber er konnte nicht anders, als ihn anzuschauen. Da war etwas an ihm, was ihn immer wieder erstaunen ließ, und auch wenn es nur eine simple Geste oder ein kleines Lächeln war. Und all diese Dinge waren nicht einmal an Yoongi selbst gerichtet. Jimin hielt zu ihm, nach wie vor, großen Abstand.

Yoongi wollte das nur zu gern ändern, wusste aber auch, dass er den Omega nicht einfach fragen konnte. Jimin musste schließlich einen triftigen Grund haben, warum er ihn mied. Am Ende fühlte er sich einfach nur unwohl, und Yoongi würde schlecht daran tun, dieses Unwohlsein noch zu verstärken.

Dummerweise hatten Seokjin's wache Augen sein Verhalten bereits beobachtet.

"Dich muss es ja wirklich schlimm erwischt haben, wenn du Jiminie so hinterher starrst."

Genau das hatte er gesagt. Und Himmel, Yoongi wäre am liebsten im Boden versunken. Bis dahin hatte er geglaubt, dass es zumindest unbemerkt blieb, aber offensichtlich hatte allein die Hoffnung ihm keinen Gefallen getan.

Er hatte erwartet, das Seokjin wütend sein würde, aber seltsamerweise ist nichts dergleichen geschehen. Stattdessen hatte er wage gelächelt, mit einem leicht wehmütigen Ausdruck in den Augen. Er hatte Yoongi eine Hand auf die Schulter gelegt, hatte ihn dabei sehr intensiv angesehen.

"Versprich mir, dass du ihn nicht überrumpelst."

Einen Scheiß hatte Yoongi vor. Er wollte dieses Geheimnis mit in sein Grab nehmen, und nicht Jimin damit belästigen. Das hatte er auch gesagt, aber Seokjin hatte nur weiterhin gelächelt und dann ein anderes Thema angeschnitten.

Gut. Vielleicht war der Plan mit "Ich nehme dieses Geheimnis mit in mein Grab." nicht ganz aufgegangen. Genau einen Tag später, als Yoongi die große Halle zum Abendessen betrat und Jimin an seinem üblichen Platz entdeckte, hatte sein Instinkt die Führung übernommen. Anstatt sich nur einen Teller und seine wie üblich willens gering ausfallende Portion zu holen, trugen seine Beine ihn zur Mitte der Halle, zu dem Braten, der an einem Spieß hing. Er lud sich eine große Portion auf einen Teller, den er schnell von einem der Tische schnappte und ging dann schnellen Schrittes zu der Tafel, an dem sich Jimin wie üblich niedergelassen hatte.

Diesmal setzte er sich, ohne zu zögern. Er bemerkte Taehyung's verwirrten Blick zu seiner Portionsgröße nur am Rande, während Yoongi es sich bequem machte. Und wieder, ohne zu zögern, zog er Jimin's Teller, ohne zu fragen, zu sich heran und lud den Großteil seiner Fleischportion darauf.

Taehyung drehte die Augen heraus, während Seokjin sich räusperte. Jimin starrte Yoongi an, verwirrt und auch ein wenig ängstlich - das verschwand aber schnell, als Yoongi ihm den Teller zurückschob. Stattdessen hatte er jetzt einen fast geschockten Ausdruck in den Augen.

Ohne groß über seine Tat nachzudenken verschlang Yoongi seine eigene - viel kleinere - Portion. Der gesamte Tisch war totenstill geworden, wobei man sich vorher angeregt unterhalten hatte. Alle sahen zwischen ihm und Jimin hin und her.

Hoseok hustete in seine Faust und stieß Yoongi mit seinem Ellenbogen in die Rippen.

Yoongi hob verwirrt wieder den Kopf, und erst dann viel ihm auf, was er eben getan hatte. Er musste sofort rot angelaufen sein, denn Jeongguk und Taehyung fingen an zu lachen - ausgelassen und laut.

Jimin starrte inzwischen auf den vollgepackten Teller vor ihm.

Die restlichen Anwesenden stiegen in das Lachen mit ein, Namjoon verschluckte sich sogar fast, Seokjin schlug ihm energisch auf den Rücken, Hoseok schmiss sich lachend gegen ihn.

Das Lachen brach aber abrupt ab, als Jimin ruckartig aufstand, wobei sein Stuhl umfiel und der halbe Tisch wackelte. Seine Augen - zu Yoongi's Erschrecken mit Tränen gefüllt - flackerten zwischen ihm und den anderen hin und her. Sein Mund öffnete sich, als wolle er etwas sagen, aber dann schloss er ihn wieder und der Omega floh mit schnellen Schritten aus der Halle.

Taehyung, der sich bis eben noch so amüsiert hatte, stand ebenfalls schnell auf und stürzte seinem Freund hinterher. Der Rest blieb erstarrt und geschockt zurück.

Ihn allen war sofort der Appetit vergangen und Yoongi wollte seinen Kopf auf die Tischplatte schlagen, aber Hoseok hielt ihn zurück. Er klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken, aber sein eigener Gesichtsausdruck verriet ihn.

Niemand sprach an, was passiert war, der Rest des Abendessens wurde still verrichtet und Yoongi verließ die Halle schließlich mit einem schweren Gefühl im Magen.

ICED HEARTSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt