Unfallchirurgie für Anfänger

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Karev und ich machten uns gerade bereit mit dem nächsten Krankenwagen zum Unfallort zu fahren und dort nach Luis Johannsen zu suchen.
Ich hatte bereits die Rettungskräfte nach dem Jungen gefragt,
doch sie konnten mir nichts zu ihm sagen.
Dafür konnte ich in Erfahrung bringen, dass es auf der Autobahn zu einem Massenzustammenstoß von ungefähr 20 Autos gekommen war.
Die Straße war großräumig abgesperrt worden und nach wie vor wurden immer mehr Verletzte in die umliegenden Krankenhäuser gebracht.
Mein erster Arbeitstag verlief alles andere als langweilig.
"Dr. McKenzie!" Hörte ich jemanden hinter mir rufen, als ich gerade in den Krankenwagen steigen wollte.
Ich drehte mich um und sah Lexie Grey auf mich zu laufen.
"Die Appendektomie wurde wegen des Unfalls verschoben,
da die Ops dringend für Unfallopfer benötigt werden.
Deshalb wollte ich sie fragen,
ob sie mich irgendwo brauchen."
Ich überlegte kurz.
"Gehen sie rein und fragen sie Dr. Hunt, ob er etwas für sie zu tun hat.
Und sehen sie nach Tommy Davis.
Er müsste gerade noch im OP bei Torres sein und seine Eltern werden jeden Moment hier ankommen."
Wies ich sie an und stieg dann ohne mich noch einmal umzusehen in den Krankenwagen,
der sofort losfuhr.

Der Unfallort war ein grausamer Anblick.
Karev, der neben mir ausstieg,
starrte mit großen Augen umher.
Überall standen Autos wie durcheinander gewürfelt umher.
Aus den meisten stieg Rauch auf und einige lagen sogar auf dem Dach oder auf der Seite.
Sanitäter und Notärzte rannten umher und luden Verletzte in die Rettungswägen.
Die Luft war erfüllt von dem Geschrei dutzender Verletzter,
die zwischen den Autos lagen.
Ich lief los, um in dem ganzen Chaos nach dem kleinen Jungen zu suchen.
Auf halber Strecke merkte ich, dass Karev immer noch am Wagen stand.
"Nun kommen sie schon!" Rief ich über meine Schulter.
Schnell packte er einen Notfallkoffer und rannte mir hinterher.
Eine Weile irrten wir durch die Trümmer.
Der Rauch biss in der Lunge und machte es uns schwer etwas zu sehen.
Auf an Mal drang eine leise Stimme an mein Ohr.
Sofort blieb ich stehen.
"Was ist?" Fragte Karev.
"Hören sie."
Wieder erklang das Geräusch. Es hörte sich an wie das leise Jammern eine kleinen Kindes.
"Meinen sie das ist Louis?"
"Ich hoffe es."
Nun folgte ich der Stimme. Als sie lauter wurde,
begann ich zu rufen:
"Louis!"
Wieder wurde die Stimme lauter.
Es musste sich dabei einfach um den vermissten Jungen handeln.
Ich rannte los. Dabei musste ich immer wieder Gegenständen ausweichen,
die überall auf der Fahrbahn verstreut waren:
Koffer, eine Puppe, Schuhe.
Schrecklich, dachte ich, man fährt ganz normal, wie an jedem Tag nichts ahnend über die Autobahn in den Urlaub oder zu Arbeit
und plötzlich reist ein solcher Unfall einen Mitten aus dem Leben.
Wie vielen Menschen hatte diese Fahrt wohl das Leben gekostet?
Als ich mich weiter umsah,
entdeckte ich unter einem Auto, das auf der Seite lag, zwei Beine.
"Karev, hier!" Rief ich nach dem Assistenzarzt,
der sofort angerannt kam.
Ich lief auf die andere Seite des Autos.
Wie ich vermutet hatte, lag dort die andere Hälfte eines kleinen Jungen.
Vorsichtig kniete ich mich neben ihn:
"Hallo, ich bin Dr. McKenzie und das ist Dr. Karev.
Bist du Luis Johannsen?"
Der kleine Junge nickte.
Seine braunen Haare waren verklebt mit Blut und auf seinen Wangen zeichneten sich Tränenspuren ab.
"Wo ist mein Papa?"
"Dein Papa ist bei uns im Krankenhaus.
Er wartet dort schon auf dich." Beruhigte Karev ihn.
"Wir werden dich jetzt kurz untersuchen, okay?"
Fragte ich den Jungen und schaute mir seine Verletzungen an.
Am Kopf hatte er nur eine Platzwunde,
die Karev desinfizierte und vorerst ein Pflaster darauf klebte,
bis wir sie im Seattle Grace nähen würden.
Was mir wesentlich mehr Sorgen machte,
war, das sein Unterleib und ein Teil seiner Beine unter dem Autos lagen.
So weit ich sehen konnte, hatte sich darunter auch schon eine gewisse Menge an Blut angesammelt.
"Karev, auf ein Wort."
Wir gingen etwas abseits, sodass Luis nicht hören konnte,
was wir nun besprachen.
"Sollten wir nicht schnell jemanden holen,
um ihn unter dem Auto herauszubekommen?"
Ungeduldig wippte er auf seinen Füßen.
"Sie werden gleich loslaufen und ein paar von den Sanitätern holen,
die hier helfen sollen.
Luis hat vermutlich innere Blutungen.
Es kann sein, dass diese schlimmer werden,
wenn das Auto heruntergehoben wird.
Durch den Druck, den es auf den Körper ausübt,
staut es das Blut noch zurück."
erklärte ich schnell.
"Aber wir können ihn doch nicht so liegen lassen!" Rief Karev entsetzt.
"Deshalb werden sie so schnell sie können losrennen und so viele Blutkonserven holen,
wie sie finden können.
Los, gehen sie!"
Mit einem letzten irritierte Blick rannte Karev so schnell los,
dass er beinahe über das nächste Autoteil gestolpert wäre.
Ich vermutet, dass er nicht viel Zeit mit Unfallchirurgie verbrachte,
denn er sah so aus als hätte er einen riesigen Unfall wie diesen noch nie gesehen.
Ich selbst war ehrlich gesagt auch länger nicht
an einem Unfallort gewesen,
deswegen musste ich improvisieren und hoffen,
dass der Junge überleben würde.
Ich ging zurück zu Luis und kniete mich neben ihn.
"Holen sie mich hier raus?" Fragte er.
Besorgt fiel mir auf, dass sein Gesicht sehr blass war und seine Stimme schwach und müde klang.
"Wir werden alles tun, um dich zu deinem Papa zu bringen." Versprach ich ihn.
"Mir tut alles weh!" Weinte Luis.
"Ich werde dir gleich etwas gegen die schmerzen geben."
Ich packte den Notfallkoffer, den Karev hiergelassen hatte und suchte darin nach Schmerzmittel.
Ich fand mehrere Spritze und hoffte,
dass diese reichen würden, bis wir Luis ins Krankenhaus gebracht hatten.
Ich spritzte ihm das Schmerzmittel und begann dann die Wunde an seinem Kopf zu säubern.
"Werden die Schmerzen besser?"
"Ein wenig."
"Ich werde die Platzwunde an deinem Kopf nähen müssen, damit sie sich nicht infiziert."
Panisch drehte Luis seinen Kopf zu mir.
"Aber das tut weh!" Rief er.
"Ein bisschen wirst du es spüren, aber das musst du aushalten, okay?
Wenn ich es nicht nähe, dann wird es noch mehr wehtun." versuchte ich ihn zu überzeugen.
Es tat mir leid, dass er so etwas ertragen musste,
aber eine andere Möglichkeit gab es im Moment nicht.
Die Schmerzmittel und seine anderen Verletzungen würden bewirken,
dass er seinen Kopf weniger spürte.
Ich packte eine Nadel und den speziellen Faden aus der sterilen Verpackung aus.
Als ich mit dem Nähen begann,
zuckte Luis zusammen.
Also versuchte ich ihn durch Gespräche abzulenken, damit er still hielt.
"Wohin wolltet ihr denn fahren?"
"Zu einem Fußballspiel. Mein Freund Tommy und ich spielen in derselben Mannschaft und heute ist ein wichtiges Spiel. Ist Tommy auch im Krankenhaus?"
"Ja, es geht ihm gut."
Um Luis nicht noch mehr aufzuregen, wollte ich ihm nicht erzählen, dass sein Freund gerade im OP war.
Nachdem ich mit dem Nähen fertig war,
setzte ich mich neben Luis und stellte ihm weiter Fragen, damit er nicht einschlafen konnte.
Zwischendurch gab ich ihm immer wieder Schmerzmittel.
Mehr konnte nicht für ihn tun.
Jetzt blieb nur noch die Hoffnung,
dass Karev jemanden finden würde, der Luis hier raus holen konnte.

Nach gefühlten Stunden kam Karev endlich wieder zurück.
Hinter ihm erkannte ich zwei Sanitäter.
Gemeinsam machten die drei sich bereit das Auto von Luis herunter zu heben.
Ich stand neben ihn und hielt eine Blutkonserve in der Hand,
deren Inhalt bereits in seine Venen lief.
Ich entdeckte einen anderen Sanitäter, der auf uns zu kam und winkte ihn heran.
"Halten sie das bitte." Ich drücke ihm die Konserve in die Hand,
dann suchte ich aus dem Notfallkoffer alle Verbände und ähnliches heraus.
Das würden wir brauchen, um die Blutungen zu stillen, sobald mit dem Auto der Druck von Luis Verletzungen weg wäre.
"Bereit?" Fragte ich Karev und die Sanitäter.
Zustimmend nickten diese.
"Okay, dann los!"
Ächzend und stöhnend begannen die drei unter äußersten Anstrengungen das Auto anzuheben.
Ich sah,
wie ihre Gesichter sich verzogen und rot anliefen,
doch endlich bewegte sich das Auto und mit einem letzten Kraftakt schafften sie es,
das schwere Gefährt von dem kleinen Jungen zu heben und auf sein Dach zu drehen.
Sofort begann ich sämtliche Verbände um Luis Beine zu wickeln und so fest zu ziehen,
wie es ging.
"Hängen sie noch eine Blutkonserve an." Wies ich den Sanitäter an.
"Karev, sie geben noch einmal eine Dosis Schmerzmittel. Und sie beide..."
Ich zeigte auf die beiden anderen Sanitäter.
"...besorgen schnell eine Trage und fahren uns dann ins Seattle Grace."
Zufrieden sah ich zu, wie alle meinen Anweisungen folgten.
Vielleicht sollte ich doch auf Unfallchirurgie umsteigen.
Ich drückte weiter neue Verbände auf Luis Wunden.
Er hatte tiefe Frakturen und Quetschungen an beiden Beinen.
Ich hoffte, dass man sie retten konnte,
wenn wir schnell genug zurück ins Krankenhaus kamen.

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