03.08.2014 die Flucht

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Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr lebte ich in Solakh, das ist ein Dorf im Irak, es ist nur zehn Minuten von Shingal entfernt.
Dort lebte ich mit meinen beiden Schwestern Sherin und Emel, meinen beiden Brüdern Sinan und Adil und meinen Eltern. Zu unseren Nachbarn gehörten zwei meiner Onkel und meine Oma. Mein anderer Onkel, der Tierarzt war und eine Praxis betrieb, lebte in Shingal. Ich war wirklich glücklich, immerhin sah ich meine Familie und das an jedem Tag. Ich war vierzehn, ich hatte keine Sorgen und wir waren auch nicht arm. Ich genoss die warmen Strahlen der Sonne, die mich jeden Morgen wach kitzelten und mich mit der Wärme der Freiheit umhüllten. Meine Heimat Irak war mein Zuhause. Wir hatten alles, wirklich alles, bis zu dem Tag, an dem sich all unsere Freude in Trauer wandelte. Am 03.08.2014 wurde ich und der Rest meiner Familie durch meinen Vater geweckt, es war vielleicht sechs Uhr. Die Sonne war noch unten, ich drehte mich wieder um, denn ich verstand nicht, was um mich herum geschah. Ich schmiegte mich etwas fester an meine Matratze, ich lag auf dem flachen Dach von unserem Haus. Unsere Dächer waren Flach, nicht so wie die üblichen Dächer hier in Deutschland. Der Schlaf auf den Dächern, ist mit dem Schlaf in einem geschlossen Raum nicht zu vergleichen. Wir alle waren beieinander, erzählten uns in jeder Nacht Geschichten und erholten uns von der Hitze, die uns am Tag stetig begleitet hatte. Die kühle Luft strich über mein Gesicht, über das Gesicht, das nur wenige Stunden später erstarrte. „Ardawan steh auf, steh auf Ardawan!", rief meine Mutter. Sie rüttelte an mir und als ich dann endlich die Augen richtig aufmachen konnte, sah ich die besorgten Gesichter meiner Familie. Ich rieb mir an die Augen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumen würde. Ich sah alles ganz klar, ich war in keinem Traum, leider war ich das nicht. Ich folgte der lauten Stimme von meinem Vater. Er und seine beiden Brüder telefonierten hin und her, alle waren so hektisch. Er lief mehrmals im Kreis und gestikulierte dabei hysterisch mit seinen Händen. Meine Mutter und alle anderen liefen um her, um das Nötigste zu packen.

Ich ging zu meinem Vater, der endlich auf einer Stelle stehen blieb, und hörte nur, dass wir schleunigst fliehen müssen. Das yezidische Volk sei in Gefahr, hieß es. Mein Onkel aus Shingal berichtete uns, dass die IS-Terroristen systematisch die Yeziden aus ihren Häusern zerrten und nach einander töteten. Aber was hatten wir Yeziden getan? Warum wir? Ich verstand es nicht und ich verstehe es auch heute nicht. „Hilf deinen Geschwistern", forderte er mich auf. In seinem Gesicht war sichtlich geschrieben, dass er verzweifelt war, weil ich das Gespräch mitgehört hatte. Er wollte die Last der Wahrheit alleine tragen.

Wir hatten nur drei Möglichkeiten, entweder wir blieben und hätten kämpfen müssen - dafür fehlten uns jedoch die Waffen - oder wir geben unseren Glauben auf und konvertieren zum Islam - auch das war keine Option - also blieb uns nur die letzte Möglichkeit: Wir mussten fliehen! Wir waren insgesamt dreißig Personen und hatten nur zwei Autos. Wir quetschten uns alle nacheinander rein und nahmen nur das Nötigste mit. Ich blickte aus dem Fenster und sah wie mein Vater all unsere Tiere befreite. Die Schafe, die Hühner und die Kühe, alle waren frei. Ich verstand zwar immer noch nicht, warum wir fliehen mussten, aber ich spürte, dass ich mich von der Freiheit verabschieden musste. Die Tiere waren frei, wir hingegen waren gefangen. Gefangen in der Angst.
„Ich musste sie rauslassen, wer hätte sie sonst gefüttert? Wie wären sie an Trinken gekommen?", prustete mein Vater erschöpft und setzte sich nach vorne. „Wir müssen hier schnell weg, wir haben für so was keine Zeit!", ertönte die Stimme von meinem Onkel, dessen Hände sich am Lenkrad fest krallten. Beide Autos fuhren los. Wir hinterließen unsere Heimat und fuhren in eine Zukunft voller Fragen.
Keiner von uns wusste, ob wir am nächsten Tag noch atmen würden.

Ardawan - Gefangen in den Händen von BarbarenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt