Von Shingal nach Tal Afar

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Auch in dieser Nacht konnte ich meine Augen nicht schließen. Meine Glieder schmerzten höllisch. Noch immer konnten wir uns nicht wehren, denn draußen waren die älteren Frauen und viele Kinder gefangen. Ihr Leben lag in unseren Händen, sowie unser Leben in ihren Händen lag.
Mein Onkel wollte nun umso mehr überleben, denn er wollte seine Frau und sein Kind retten. Er redete sich ständig ein, dass ihnen nichts geschehen würde. Aber diese Terroristen schlachten sogar Kinder, sie waren keine Menschen mehr! Sie machten vor nichts halt, wie hätte man vor ihnen also in Sicherheit sein können?

Am dritten Tag mussten wir alle nacheinander aus der Halle rauskommen und uns in Reihen aufstellen.   Der erste Atemzug war unglaublich. Es fühlt sich so an, als würde meine Lunge sich erheben. Endlich frische Luft, dachte ich. Endlich aus diesem Gefängnis draußen, dachte ich. Wie waren umzingelt von Barbaren, dessen Bosheit uns einfing. Selbst ohne das Gebäude und ja selbst ohne Wände waren wir gefangen. Nacheinander wurden uns die Augen verbunden und unsere Hände wurden auf unserem Rücken mit Handschellen gefesselt. Sie zogen die Fessel so stark, dass sich der Druck durch meine Handgelenke schnitt. Es machte mich beinah wahnsinnig, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich konnte nichts sehen und meine Hände konnte ich auch nicht mehr bewegen. Ich fühlte mich so unglaublich nutzlos. Ich hörte wie einer der Barbaren fragte, wie viel Munition sie noch hätten. „Wir habe genug, um 300 Ungläubige zu töten", antwortete ein anderer. „Onkel was passiert jetzt mit uns", fragte ich verzweifelt. „Ardawan rede nicht, sei für sie unsichtbar, sonst wirst du als erstes sterben!", befahl mein Onkel mir. Auch wenn ich meinen Mund nun festhielt, mein Atem hätte mich verraten können. Ich war aber nicht der Einzige, der seine Gefühle kaum noch unterdrücken konnte. Einer von uns übergab sich aus Angst, auch mir wurde schlecht. Plötzlich sagte einer neben mir, dass er geköpft wurde und das wir alle geköpft werden.

Die Angst war groß, ich wollte mich irgendwo einfach nur festhalten, um nicht hinzufallen, aber ich konnte mich nicht mal mehr an meinem eigenen Körper festhalten. „Schaut euch diese Ungläubigen an! Die pinkeln sich ja fast schon in die Hose", lachten sie auf. Sie machten sich lustig über unsere Angst, aber wer waren die wirklichen Feiglinge? Wir, dessen Augen verschlossen und Hände gefesselt waren? Oder die, die mit Gewehren und Messern vor uns standen?!
„Nimm dir die ersten Vier", die Schritte wurden immer lauter. Eine Hand griff nach mir und zerrte mich von meinem Onkel weg. Auch wenn ich nichts sehen konnte, auch wenn ich nicht wusste, was mit mir geschehen wird, gab ich keinen Ton von mir. Ich musste auf die Worte von meinem Onkel und meinem Vater vertrauen. Ahnungslos wurde ich in einem großen Lastwagen gesteckt. Ich wurde wie ein Sack Müll auf dem Boden geworfen, der höllisch stank. Wie ein Häufchen Elend lag ich dort, noch immer waren meine Augen verbunden und meine Hände gefesselt. Mein Körper fühlte sich so fremd an, ich hatte noch nie in meinem Leben solche Schmerzen empfunden. Ich hatte keine Zeit, um weiter über meine Schmerzen in meinen Gedanken zu klagen, denn der Wagen füllte sich immer mehr. Es war unglaublich stickig und ich konnte mich kaum noch bewegen. „Ardawan", hörte ich meinen Namen flüstern. „Onkel?", ich drehte meinen Kopf hastig hin und her. Ich wollte aufstehen, aber das gelang mir nicht. „Nein er ist noch dort geblieben. Ich bin's Milad. Ich habe gehört, dass sie uns aber noch folgen werden", ertönte die Stimme von meinem Cousin. Erleichtert atmete ich aus.
Über einer Stunde lagen wir in diesem Lastwagen. Die Fahrt war holprig und die Luft wurde immer dünner.

Diese Handschellen übten einen Druck auf meine Handgelenke aus, aber dieser Schmerz war mit der Ungewissheit meiner verbundenen Augen nicht zu vergleichen. Die Dunkelheit machte mich wahnsinnig. Ja, ich weiß, wir saßen dort gefangen und meine Augen hätten mir die Fesseln der Gefangenschaft nicht nehmen können, aber ich hatte diese Dunkelheit statt. Ich wollte die Sonne sehen, ich wollte zu ihr blicken und beten. Ich wollte nicht in dieser Dunkelheit beten, nicht in der Dunkelheit der Barbaren.

Ardawan - Gefangen in den Händen von BarbarenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt