Der Tod war unser Alltag

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„Diese Ungläubige verdienten es nicht zu leben. Sie glauben an das Böse, sie sind das Böse!", posaunte er und wischte sich das Blut an seinen Fingern mit einem schwarzen Tuch weg. Er stand in dieser Blutlache, die er zu verantworten hatte, und die Bösen sollten diese unschuldigen Toten sein? „Ihr werdet zu unseren Brüdern, ihr werdet nach diesen Gebeten zu uns gehören! Ihr werdet Rechte bekommen, all eure Sünden werden reingewaschen, ihr werdet neu geboren und dann seid ihr richtige Menschen", betonte er. Er stellte sich aufrecht hin und fuchtelte so mit seinen Händen, als wäre eine höhere Macht.
Wir alle mussten ihnen folgen.

Ein radikaler Imam stellte sich mit dem Koran vor uns. Er las mit gehobenen Finger Verse vor und wir mussten sie nachsprechen. Viele von uns bewegten zwar ihren Mund, aber wir sprachen zu unseren Erzengeln und Heiligen, insbesondere zu unserem Obersten Erzengel Tausi Melêk, statt den Vers nachzusprechen. Wir waren viel zu viele, dadurch bemerkten sie das nicht. Auch ich sprach ihren Vers nicht aus.
Anschließend mussten wir nach dem muslimischen Gesetz auf Gebetsteppichen beten. Als diese Prozedur vollendet war, interviewten sie einige von uns, umarmten uns und küssten unsere Wange. Nun waren wir für sie Menschen, davor waren wir weniger wertvoll als ein Leben von einem Wurm. Sie gaben uns reichlich Essen und Trinken. Trotz meines knurrenden Magens, bekam ich keinen Bissen runter. Wir alle waren gebrandmarkt.
Diese Barbaren waren solche Heuchler, solche widerwärtigen Menschen. Nein, sie waren keine Menschen! Sie waren alles, aber keine Menschen! Sie töten vor unseren Augen und im nächsten Atemzug küssten sie unsere Wangen?! Ich hätte da liegen können, wir alle hätten da in dieser Blutlache liegen können!

Ich bin dankbar, dass ich ihnen nicht nachgesprochen habe, aber ich verurteile niemanden, der dies tat. Trotz dieser Prozedur wurde niemand von uns zu einem Moslem! Wir glaubten weiterhin an das Yezidentum, sie konnten vielleicht alles mit uns machen, aber sie konnten uns unserem Glauben nicht aus unserem Herzen entreißen!

Als wir dann zu ihren „Brüdern" wurden, wurde ich wieder mit meiner Familie vereint. Ihnen ging es zum Glück gut, meine Schwestern blieben -Gottseidank- alle unversehrt.
Monate blieben wir in Tal Afar und kümmerten uns um das Züchten von Hühnern. In diesen Monaten gehörten wir weiterhin ihnen, wir waren ihre Arbeiter. Nach fünf Monaten mussten mir nach Mossul. Wir sollten dann dort leben. Aber all diese Monate waren kein Leben. Wir wurden ständig kontrolliert, wer was yezidisches bei sich trug, der wurde getötet. 15 ältere Frauen, die mit uns an diesem Ort gefangen waren, legten die yezidische Tracht nicht ab.

Wir alle redeten ständig auf sie ein und flehten sie an, diese abzulegen, aber sie wollten es nicht. „Wir sind so geboren und wir werden auch so sterben", sagte mir mal eine der älteren Frauen. Sie hatten ihre Kinder bereits schon verloren, alles was ihnen blieb, war ihr Glaube. Sie wurden bei lebendigem Leib in einem Brunnen geworfen. Sie alle starben.. Sie brachen sich sämtliche Knochen, sie brachen sich das Genick.. 15 unschuldige ältere Frauen mussten sterben, weil sie an ihren Glauben festhielten! Wisst ihr wann das war?
Vor paar Jahren! Warum weiß kaum einer davon? Und was war mit der Frau, die ihren einjährigen Sohn als Essen serviert bekam? Hat einer darüber gesprochen?! Die Frau musste tagelang hungern, sie war in einem Keller gefangen und bekam auch nichts zum Trinken. Nach drei Tagen bekam sie Reis und Fleisch, sie aß alles auf. Der Peiniger sagte ihr, dass er ihren Sohn getötet und gekocht hat. Sie hatte ihren eigenen Sohn gegessen! Warum sprach niemand darüber? Mein Volk wurde massakriert, unsere Mädchen werden bis heute noch als Sexsklavinnen  gehalten und verkauft! Warum spricht niemand über diesen Genozid? Wisst ihr wie hart das ist, dass kaum einer davon weiß? Wie oft ich mich erklären muss, wie oft ich erklären muss, wer wir Yeziden überhaupt sind? Waren die Medien wirklich so still, oder wollten die Menschen diese Grausamkeit nicht hören? Ist Solidarität zu viel verlangt?

Ardawan - Gefangen in den Händen von BarbarenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt