28.02.2015 Die Befreigung

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Wir sind diesen Barbaren entkommen nicht weil jemand außenstehendes solidarisch war oder diese Monster uns frei ließen, nein. Mein Onkel, der Tierarzt in Shingal war, beauftragte jemanden, der uns rettete. Natürlich mussten wir dafür Geld bezahlen. Geld war anscheinend wertvoller als das Leben vieler Menschen. Papier konnte das Vergießen von Blut stoppen, Menschlichkeit hingegen nicht.

In der Nacht kleideten wir uns alle in Schwarz ein, denn die ISIS-Terroristen kontrollieren jede Straße. In wie vielen Nächten wurden Unschuldige geköpft, weil sie - genauso wie wir- einfach nur fliehen wollten? Wie viele wurden vor unseren Augen hingerichtet, nur weil sie leben wollten? Weil sie ihr Leben zurückhaben wollten! Mit dieser Angst, mit dieser Furcht öffneten wir die Tür und fingen an zu rennen. Wir rannten die ganze Nacht durch und das ohne Pause. Wir spürten den Tod im Rücken und genau deswegen liefen unsere Beine weiter. Immer weiter und immer weiter. Unsere eigenen Schatten trieben uns an, denn wenn diese Schatten ihre wären, würden wir nicht mehr leben.

Meine Füße, sie schmerzten so sehr, meine Fußsohlen brannten und bluteten, ich war so erschöpft. So unglaublich erschöpft..
Ich kann diese Nacht nicht mehr beschreiben, ich weiß nur noch, wie wir zur Peschmerga rannten. Wäre dieser Partner von meinem Onkel nicht dabei, hätten auch sie uns erschossen, denn wir waren wie die Monster eingekleidet. So schwarz wie ihr Äußeres und Inneres zugleich..

Dieses Gefühl der Befreiung, dieses Gefühl.. endlich wieder ausatmen zu können, überwältigte mich so sehr, dass ich anfing zu weinen...

So viele Tote, so viel Blut, so viel Gewalt, so viel Geschrei und so unglaublich viel Unmenschlichkeit waren und sind ein Teil von mir geworden. Ich kann das alles nicht vergessen und ich will es auch nicht. Wenn ich nicht über meine Geschichte spreche, wer soll es dann tun? Würdest du es tun?

Auch wenn wir es in dieser Nacht geschafft haben, sind Unzählige allein nur beim Versuch gestorben. Auch meine Oma, meine liebenswerte wunderschöne Oma.. ist gestorben.. denn sie konnte diesen Weg erst gar nicht wagen, ist zurückgeblieben und wurde ermordet. Ich weiß nicht, wie ich das jemals verarbeiten soll, aber ich weiß, dass ich meine Stimme für sie und alle anderen Opfer erheben werde. Ich werde diesen Genozid an mein Volk - an das yezidische Volk - niemals vergessen!

Mein Name ist Ardawan, ich bin 21 Jahre alt und das war nur ein Bruchteil meiner Geschichte.
Ich war sieben Monate gefangen, aber ich habe weder meinen Glauben noch meine Stärke verloren.
Ich bin dankbar, dass ich lebe.
Ich bin dankbar, dass ich Sicherheit spüre und meine Ängste mir nicht mehr im Wege stehen.

Ardawan - Gefangen in den Händen von BarbarenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt