Es war ungefähr acht Uhr morgens, unser Ziel waren die Berge von Shingal.
Um auf die Berge zu gelangen mussten wir durch Shingal fahren.Shingal sah noch so friedlich aus, die Straßen waren leer, nirgendwo sah ich diese bösen Menschen, von denen die ganze Zeit gesprochen wurde. Ich weiß nicht warum, aber für einen kurzen Moment konnte ich wieder aufatmen. „Uns wird nichts geschehen", murmelte ich leise vor mich hin. „Wir kommen hier nicht weiter", ich drehte meinen Kopf zu der Stimme meines Vaters, die mir jegliche Hoffnung entriss. Sein Gesicht lag in seinen Händen, er krümmte sich leicht nach vorne und atmete laut aus.
Der kurze Moment der Hoffnung schickte mich in eine Trance. Erst jetzt bemerkte ich, dass Tausende von weiteren Autos auf den Bergen waren. Es bildete sich regelrecht ein Stau und die Menschen stiegen aus. Auch wir stiegen aus und nahmen nur etwas Wasser mit. Alles andere ließen wir in den Autos zurück. Wir fingen an zu laufen, es war so heiß, so unglaublich heiß. Meine Beine wurden mit jedem Schritt schwerer und als wäre das nicht schon genug, wurde es immer steiler. Ich sah schon wie viele anfingen aufzugeben, etliche Menschen fielen auf ihre Knie. Sie fielen und weinten bitterlich. Andere trugen ihre Eltern und Großeltern auf dem Rücken. Überall hörte ich das Geschrei von kleinen Kindern, die vor Erschöpfung kaum noch atmen konnten. Überall sah ich verzweifelte Menschen, die einfach nur leben wollten. In was für einen schrecklichen Horrorfilm steckten wir?
„Ich kann nicht mehr", erschöpft fiel auch meine Oma zusammen. Sie atmete nur noch schwer und stützte sich mit ihren Händen auf dem Boden, der vor Hitze glühte. Bemitleidend schaute ich sie an. Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben, sie wollte Lächeln. Sie wollte für mich lächeln, aber ich konnte den Schmerz in ihren Augen sehen. Sie waren gefüllt mit Tränen, die sie selbst nicht losließ. „Wir bleiben hier, ihr musst laufen! Lauft so schnell wie ihr könnt und blickt ja nicht zurück!", forderte mein Onkel uns auf, der gleichzeitig versuchte seiner Mutter vom Boden auf zu helfen.Zwei meiner Cousins, deren Augen sich mit Tränen füllten, gehorchten und liefen davon. „Ich werde nicht gehen! Entweder wir leben zusammen oder wir sterben zusammen!", brüllte ich. Mein Unterkiefer fing an zu zittern, aber ich durfte nicht weinen. Ich wollte es nicht! Das war wohl der Moment an dem ich ein Teil meiner kindlichen Naivität abgelegt hatte. So blieben wir also zusammen. Noch bevor mein Vater mich zum Weglaufen zwingen konnte, spürten wir eine enorme Druckwelle. Wir drehten uns um und sahen, wie unsere Heimat in das Blut Unschuldiger getränkt wurde. Bomben schlugen auf unsere Heiligtümer und auf die Heiligtümer der Schiiten ein. „Schaut dort nicht hin!", schrie uns unsere Mutter weinend an. „Ach Hawar, Hawar, Hawar", schrie sie und schlug sich dabei auf die Brust. Sie schlug immer und immer wieder drauf und ich konnte nichts tun. All die Hitze um uns herum konnte mich nicht mehr wärmen. Ich spürte diese enorme Kälte in mir, meine Beine fingen an zu zittern und mein Atem wurde immer schneller. „Sie kommen, sie kommen!", schrie einer von uns. Ich weiß nicht mehr wer das war, aber wir blickten alle zum Fuß des Berges. Wir sahen, wie die Menschen, die noch weiter unten waren, nach einander getötet wurden. Sie wurden geköpft! Sie wurden alle geköpft! Sie wurden nacheinander geköpft! Alle, alle die unten waren, selbst die kleinen Kinder! Ich griff zu dem Kleid meiner Mutter und drückte mein Gesicht an ihrer Schulter. Ich wollte das nicht sehen! Ich wollte das alles nicht mehr hören! Das Kreischen ihrer Seelen überdeckte den Berg mit vollkommener Dunkelheit.
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Ardawan - Gefangen in den Händen von Barbaren
Short StoryDiese Gesichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Achtung trigger Warnung! Diese Geschichte ist nichts für schwache Nerven. Es geht um einen 14 Jährigen Jungen, der sieben Monate in der Gefangenschaft von Terroristen war. In diesen sieben Mona...