Prolog

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19.Februar1884
Der Mond leuchtete hell. Er beleuchtete alles, die Menschen die unter ihm durch die schmalen Gassen hetzten, die streuenden Katzen und das Meer. Es befanden sich nicht mehr viele Menschen auf den Straßen, aus Angst vor Räubern und anderem Diebesgesindel. Vor ein paar Stunden noch war dieser Platz übergequollen vor Männern, Frauen, Kindern und Gauklern. Überall waren kleine Stände gewesen, die jetzt verschlossen und vernagelt auf dem Platz hockten, wie verletzte Tiere. „Birnen, saftige Birnen!" „Honigkuchen, Honigkuchen!" „ Stoffe, fein gewebte Stoffe und Teppiche aus dem Orient!" war es über den Marktplatz geklungen, ebenso wie auf anderen Märkten und Plätzen der Gegend. Doch am Hauptplatz war immer am meisten los. Schreiende Kinder, Frauen die ihre Röcke rafften um zu ihnen zu gelangen. Feuerspeiende Gaukler, brüllende Händler, der Platz war vollkommen überfüllt und doch war immer Platz für die Kinder die in den Häusern um den Hauptplatz wohnten. Nach der Schule rannten sie immer, spielend den Menschen um die Beine und wenn sie müde waren zogen sie die Münzen aus den Taschen, die ihre Eltern ihnen gegeben hatten, wenn sie endlich einmal ihre Ruhe haben wollten. Mit diesen gingen sie zu ihrem Lieblingshändler und kauften die süßesten Honigkuchen die sie finden konnten. Mitten auf dem Platz stand eine hünenhafte Statue von Orlando. An dessen Fuße setzten sie sich und verschlangen gierig die Süßigkeiten. Untertags saßen die Kinder oft auf den Stufen vor der Statue und schleckten sich die Zuckerspuren von den Fingern, die die Honigkuchen der Händler hinterlassen hatten. Ab und zu blickte eines der Kinder die Statue empor. Ein paar beteuerten schon gesehen zu haben, wie sich Orlando an der Nase gekratzt oder nur kurz und lautlos geniest hatte. Die Mütter hatten die Kinder dann am Abend in den Betten trösten müssen das das nur Einbildung gewesen sei. Einige mussten ihren Kindern schon versprechen, dass die Statue entfernt würde, kurz bevor den kleinen die Augen zugefallen waren. Natürlich stand der Koloss immer noch da, genau in der Mitte des Hauptplatzes, direkt vor der Kirche. Denn die Kinder hatten dieses Erlebnis schon wieder vergessen. Doch trotzdem schworen die viele Menschen, schon gesehen zu haben, wie sich am Hauptplatz etwas geregt hatte. Mitten in der Nacht. Plötzlich schlug der Kirchturm auf dem Hauptplatz zwölf Mal. Alle die sich noch auf den Straßen befanden blickten sich um und rannten dann so schnell sie konnten los. In ein paar Minuten würde die Garde hier durch patrouillieren. Das neue Gesetz, dass man sich nach Mitternacht nicht mehr in den Straßen aufhalten durfte, hatte das Diebesleben erheblich erschwert. Keine Sekunde nachdem der zwölfte Schlag verklungen war, tat sich auf dem Hauptplatz etwas. Eine im Schlaf aufgeschreckte Taube flatterte davon. Orlando bewegte seine vom herumstehen, steifen Glieder. Nachdem er seine Arme und Beine gestreckt hatte, blickte er sich um und als niemand zu sehen war, sprang vom Sockel. Er deutete mit seinem Schwert auf den nun leeren Sockel und lief davon. Damit hatte er bewirkt, dass nun ein neuer Orlando auf dem Sockel stand. Der einzige Unterschied zwischen Beiden war, dass der Neue sich nicht rühren konnte. Der echte lief in der Zwischenzeit unter einem riesigen Steinbogen durch. Der führte in die einzige Gasse, die zum Stadttor führte. Eine schmale Gasse in der man aufpassen musste, dass man nicht mit dem grausigen Inhalt eines Nachttopfes überschüttet wurde. Das Gässchen mündete in einen weitläufigen Platz, mit Aussicht aufs Meer. Als Orlando unter dem Stadttor durch lief, blickte er kurz zu der steinernen Statue von Blasius dem Heiligen hinauf. Er konnte sich nicht rühren, war für immer an das Stadttor und seinen steinernen Sockel gebunden. Ohne einen Blick zurück, lief er den Hang nahe dem Stadttor hinab. Am Wasser standen die Boote der Fischer. Grüne, Blaue, doch am meisten rote. Ganz nah bei der Stadtmauer stand ein nüchternes rot-weiß gestreiftes, mit zwei Rudern und einer kleinen Bank. Noch kein Fischer hatte es jemals auf dem Wasser gesehen und insgeheim fragten sich alle ob der Besitzer vielleicht tot war. Doch Orlando lief zielstrebig darauf zu, schnappte sich die Ruder, schob das Boot ins Wasser, stieg ein und ruderte los. Zuerst nur langsam doch dann immer schneller. Er durfte nicht zu spät kommen, die Königin würde erzürnt sein. Er würde wieder eine Woche lang eingesperrt sein und danach musste er wieder an den Auswahlen teilnehemen. So wie beim letzten Mal. Es war grauenvoll gewesen. Wenn er untertags auf seinem Sockel so hoch über den Menschen stand, zogen vor seinem Auge immer noch die Bilder vorbei. Grauenvolle Bilder die man nie wieder los wurde. Die größten Ängste eines jeden bargelegt. Aber das war nun schon hundert Jahre her. Zitternd vor Kälte schnappte er sich ein Ruder und ruderte aus dem Hafen heraus und ins offene Meer hinein.
Zitternd zog er das Boot an Land. Es war kalt geworden nach Stunden des Ruderns. Orlando blickte hinauf zum Mond und atmete auf. Er war noch pünktlich. Wieder einmal war er froh, dass er die Monduhr konnte. Der stundenlange Lauf zum alten Kloster, kam ihm viel kürzer vor als sonst. Doch schon erblickte er vor sich das Gebäude. Am Tor des Gebäudes standen zwei bewaffnete Elfenmänner. Sie trugen goldene Rüstungen und waren mit einem Schwert, einem Speer, Pfeil und Bogen und einem Dolch bewaffnet. Einer von ihnen trug ein rotes Band um den linken Fuß. Das zeugte von seiner Ranghöhe. Die Männer erkannten ihn zwar, doch er musste erst beweisen, dass er das Zeichen kannte. Als Orlando vor ihnen stand, streckte er Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand aus und legte sie auf die Stelle zwischen den Augen. Dort ließ er sie als er den linken Fuß nach hinten streckte, sich verbeugte und mit den beiden ausgestreckten Fingern auf die Wachen deutete. Das war ein Zeichen des Respekts. Sie nickten und der mit dem roten Band sagte: „Du wirst bereits von der Königin erwartet!" Schwerfällig drückte er die massive Eichentür auf. Knarrend öffnete sie sich. Und was sich dahinter verbarg, war einfach so schön dass Orlando kurz geblendet vor Schönheit die Luft anhielt, obwohl er diesen Gang schon etliche Male zu Gesicht bekommen hatte. Es war ein langer Gang. Sehr lang. Links und rechts des Korridors waren Türen. Jede einzelne hatte Jahrhundertelange Arbeit in Anspruch genommen und hatte viele tausend Leben gekostet. Sie alle führten in einen anderen Saal oder Raum. Eine in den Innenhof und eine zu einer langen Treppe, die zu dem riesigen Dachboden führte. Zwischen den Türen standen goldene Statuen. Oder es hingen dort Bilder. Sie alle stellten eine Frau da. Eine wunderschöne, junge Frau mit roten Haaren und glitzernden grünen Augen. Sie hatte eine schöne gerade Nase und kunstvoll geschwungene Lippen. Ihre Locken fielen lang und geschmeidig auf ihre Schultern. Auf jedem Bild trug sie das selbe Gewand: Ein Bernsteinfarbenes, bodenlanges Kleid, dass mit Opalen und Rubinen verziert war. Auf manchen Bildern, war sie im Profil zu sehen und auf anderen als Porträt abgebildet. Im ganzen Korridor hingen genau zwei Bilder, wo sie ganz gemalt worden war. Die goldenen Statuen zeigten immer denselben Mann. Es war der verstorbene Mann der Königin. Er war ein großer, stolzer Mann gewesen und der Heerführer der Leibgarde der Königin. Als er gestorben war wurde er durch seinen Cousin ersetzt, der nicht sehr beliebt und freundlich, dafür aber ein hervorragender Stratege war. Langsam und ehrfürchtig schritt Orlando jetzt durch den Gang. Er wollte die Soldaten schon fragen in welche Tür er denn gehen sollte, da öffnete sich direkt neben ihm eine riesige goldene Schwungtür mit wunderschönen Verzierungen, von Wölfen, Feen, Elfen, Tauben und sogar Menschen waren darauf abgebildet. Aber in der Mitte war ein wunderschöner roter Stein abgebildet, der wichtigste Edelstein der gesamten Elfenwelt. Der Moderaris. Mit diesem Stein konnte man Ebbe und Flut kontrollieren. Doch es gab Gerüchte, unschöne Gerüchte, dass der Stein verschwunden oder gestohlen worden war, doch Orlando glaubte nicht, dass an diesen Gerüchten etwas dran war. Noch völlig in Gedanken versunken, vernahm er ein Räuspern vom Ende des Saales. Verschämt wandte sich um und erblickte die Elfenkönigin Poena, die ihn traurig anblickte. Demütig und mit gesenktem Kopf lief er zu ihr. Der rotgoldene Thron auf dem sie saß war aus Stein gemeißelt und mit dem Podest, auf dem er stand verschmolzen. Die Königin hatte ein wunderschönes, dunkelgrünes, bodenlanges Kleid an. Als Orlando, vor der Königin stand, machte er dasselbe Zeichen des Respekts, wie vor den Wachen. Die Königin neigte den Kopf. Das bedeutete, dass sie ihn respektierte, aber über ihm in der Rangordnung stand. Poena begann ohne Umschweife zu sprechen: „Es geschieht wieder! Fische sterben ab, die Algen verfärben sich! Das Meer stirbt! Und wir mit ihm!" Erschüttert stand Orlando vor ihr. Er hatte gewusst, dass alle 110 Jahre der Moderaris an Kraft verlor. Dann mussten 11 Kinder an der Auswahl teilnehmen. Der Gewinner dessen musste mit mindestens zwei Verbündeten in die Hauptstadt der Elfen reisen und von dort aus die Führung aller Elfen der Welt übernehmen. Ein altes Elfensprichwort besagt:

Vom Untergang sind wir erlost,
wenn kein Elfenkonig ist erbost.

Jedes kleinste Elfenkind wusste, dass dieses Sprichwort stimmte. Denn wenn ein Elfenkönig über seine Untertanen wütend war, tat er ihnen die schlimmsten Dinge an. Doch auch wenn niemand auf dem Thron saß geschahen schreckliche Dinge. Die Königin wusste das, darum sagte sie zu Orlando nur: „Ich werde die 26. Auswahl beginnen lassen!"

Die UnendlichenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt