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Der Regen prasselte laut gegen die Scheiben, doch ich bekam davon nichts mit. Meine Kopfhörer befanden sich auf voller Lautstärke, damit ich meine Brüder nicht zu hören brauchte. Volle sechs Stunden saß ich jetzt schon mit ihnen in einem Auto, und ich hielt es langsam nicht mehr aus. Also hatte ich mich weggedreht, die Musik auf volle Lautstärke geschalten, und las in meinem superdicken Ferienwälzer. Gerade beruhigte ich mich langsam wieder, als Liam, mein jüngerer Bruder, mich mit dem Finger in die Schulter piekte. Ich sog demonstrativ laut die Luft ein, um ihm zu zeigen, dass ich jetzt gerade überhaupt keine Lust auf eine Unterhaltung hatte. Er ignorierte das, und piekte einfach weiter! Ich musste mich sehr zurückhalten, um ihm nicht mein Buch auf die Nase zu pfeffern. Bedrohlich ruhig, und langsam drehte ich mich zu ihm um. Er schien die unterschwellige, wenn-du-mich-nicht-sofort-in-ruhe-lässt-passiert-was-drohung nicht zu verstehen, oder wollte nicht. Ich tippte eher auf nicht verstehen, er war ja erst 9. Er bagann mir, als wäre ich geistig nicht ganz bei mir, zu demonstrieren, wie man sich Kopfhörer aus den Ohren zieht, und wollte offensichtlich, dass ich das auch tat. Da ich aber ganz und gar nicht in der Stimmung war meinem kleinen Bruder zu gehorchen, ließ ich sie drinnen, drehte die Lautstärke aber unbemerkt so weit runter, dass ich ihn hören konnte, ohne, dass er es wusste. Was mich aber komplett auf die Palme brachte war, dass er jetzt auch noch seinen Mund bewegte, ohne etwas zu sagen. Man musste nicht Lippenlesen könne, um zu erkennen, dass er Ava, nimm die Dinger raus sagte. Ich verdrehte innerlich die Augen. "Ich kann dich hören verdammt noch mal!" Er zuckte zusammen, offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ihm antworten würde. Da fiel mir ein, dass er ja gar nichts sagte. Für meine Eltern klang ich jetzt sicher wie der letzte Idiot. "Ava! Hör auf zu schimpfen!" À propos Eltern, da meldete sich schon meine Mutter von vorne. War ja klar das sie nur das Verdammt raushört. "Besser gesagt, ich kann dich nicht hören, weil du ja gar nichts sagst!" Grade noch gerettet! Er war kurz sprachlos. Was für ein Segen! "Oh. Okay." Vorbei war's mit der Sprachlosigkeit. Erwartungsvoll drehte ich die Musik noch leiser, um ja nichts von seinem Gemurmel zu verpassen. Konnte der Junge denn nicht entweder gar nicht oder deutlich reden? "Ich wollte dir nur sagen, dass man deine Musik durchhört. Und zwar ganz laut." Er sah mich so tadelnd an, wie ein neunjähriger seine sechs Jahre ältere Schwester nur ansehen kann. Was bei mir natürlich gar keinen Eindruck hinterließ, eher im Gegenteil. Jetzt war es an mir kurz sprachlos zu sein. Wie konnte man wegen so etwas nur nerven? War der Junge noch nie Bus gefahren? Da hörten alle so laut! "Sehe ich so aus, als ob mich das schert?", fragte ich ihn mit gespielter Ernhaftigkeit, auf die der giftigste Blick folgte, den ich je abgesondert hatte. Ein Wunder, dass er noch nicht zuckend in den Gurten hing, vor lauter abbekommenem Gift. "Also wirklich Ava! Jetzt reiß dich zusammen! Die letzten paar Kilometer wirst du da hinten auch noch überleben!", herrschte meine Mutter nocheinmal nach hinten. Ich konnte nur schwer den plötzlichen Drang unterdrücken mit meinem Kopf gegen die kalte Scheibe zu hämmern. Stattdessen verkroch ich mich wieder hinter meinem Buch, aber nicht ohne die Musik extra auf volle Lautstärke zu drehen. Liams genervten Blick ignorierte ich geflissentlich. Dass ich die Autofahrt überleben würde war klar, aber bei meinem kleinen Bruder war ich mir da nicht so sicher.

Die, laut meiner Mutter, letzten "paar" Kilometer, zogen sich noch über zwei Stunden an einer kleinen Küstenstraße. Wegen der vielen, unvorhersehbaren, kleinen Kurven konnte ich nicht in meinem Buch weiterlesen, und gegen Ende der Fahrt war ich schon richtig nervös, weil der Akku meines Handys fast komplett leer war. Und heute war ich wirklich nicht in der Stimmung mich mit meiner Familie zu befassen. Zum Glück bogen wir gerade in dem Moment, als mein Handy nur mehr 5% Akku anzeigte, um einen riesigen Felsen, und erhaschten den ersten kurzen Blick auf unser Ziel: Dubrovnik. Die ganze Familie richtete sich mit einem Schlag auf, und gab ein lautes, kollektives "Ahhhh" von sich, nur um bei der nächsten Kurve mit einem enttäuschten "Ohhhh", wieder in sich zusammenzufallen. Trotzdem hatte dieser kurze Blick unserer Motivation wieder einen ordentlichen Schubser in die richtige Richtung verpasst, und mein Vater gab noch einmal schön Gas. Er ließ es aber gleich wieder bleiben, da er bemerkte, dass es keine sehr gute Idee war, auf einer winzigen Küstenstraße plötzlich Gas zu geben, und weil meine Mutter ihn mahnend ansah. Ich konnte sie gut verstehen. Bei dem letzten Hopser, den das Auto in Richtung Meer gemacht hatte, hatte ich mein Herz ein paar Meter hinter mir zurückgelassen.

Als wir in die Stadt dann entgültig erreichten, war sie kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte. Den Teil, den ich an den zwei Tagen hier zu sehen bekommen sollte, war ja im großen und ganzen auch nur die Altstadt. Den ersten Fehler, den wir - wie die absoluten Anfänger im auf Urlaub fahren - begingen, war, dass wir in das bewohnte Gebiet fuhren, in dem Irrglauben, dass wir dort einen Parkplatz bekommen würden. Falsch gedacht! In die Altstadt durfte man mit dem Auto gar nicht reinfahren, und die spärlichen Parkplätze, die es in dem winzigen Außenbezirk gab, waren alle belegt. Also fuhren wir wieder aus dem bewohnten Gebiet heraus, mein Vater war mittlerweile recht genervt, da wir eine Dreiviertelstunde lang nur Parkplatz gesucht hatten. Durch Zufall stießen wir, eine weitere Viertelstunde später, auf einen winzigen Sandplatz, der sich offenbar öffentlicher Parkplatz schimpfte, da schon drei weitere Autos dort standen, und wir den letzten Platz ergattern konnten. Die Parklücke war so nah am Meer, dass man Angst hatte, sein Auto würde in die Fluten stürzen. Kein Wunder, dass hier noch niemand geparkt hatte. Nicht einmal eine halbe Minute nach uns versuchten Holländer in einem riesigen Monstrum von Auto, noch eine Lücke für ihren Riesenbrummer zu finden, scheiterten jedoch kläglich. Als sie umdrehten, um die kleine Straße wieder zurückzufahren, bei der ich mich ernsthaft fragte, wie das Auto darauf fahren konnte, ohne seitlich ins Meer abzurutschen, konnte ich nicht wiederstehen, und steckte dem affektieren, blonden Mädchen auf dem Rücksitz die Zunge raus. Sie war so verblüfft, dass jemand es wagte ihr die Zunge zu zeigen, dass ihr ihr entzückendes Mündchen offen stehen blieb, als das Auto abdrehte, und sie aus meinem Leben fuhr.

Keuchend klopfte meine Mutter an die kleine Holztür, von der die schmutzig blaue Farbe abblätterte. Wir fünf standen in einem kleinen Hausflur, der etwas heruntergekommen wirkte, und nach nasser Katze roch. Mein Vater hatte zwei riesige, braune Taschen in der linken Hand, und hatte meinen zweiten Bruder, Leon, auf dem anderen Arm. Ich betrachtete Leon. Er war erst vier, und entweder er war ein furchtbarer kleiner Zwerg, oder die Niedlichkeit in Person, sodass man am liebsten in ihn reinbeißen würde, vor lauter nicht wissen wohin mit der Liebe. Mein Vater trug ihn nur, weil er die gesamte Fahrt verschlafen hatte, sonst wollte Leon sowieso immer alles alleine machen. Aber jetzt rieb er sich gähnend den Schlaf aus den Augen. Er hatte von der ganzen Fahrt nichts mitbekommen, so wie Liam einmal den kompletten Venedig Besuch. Damals war er auch erst so alt gewesen, wie Leon jetzt, und genauso süß. Wehmütig betrachtete ich ihn. Er war schon so groß geworden...Schluss jetzt, ermahnte ich mich selbst. Seit wann war ich so sentimental? Während ich vor mich hin nostalgiert hatte, war eine unglaublich alte, und unglaublich ausgezehrte Frau aus dem Raum hinter der blauen Tür gekommen, und hatte sich mit meinen Eltern und unserem Ferienquartier befasst. Offenbar sprach sie nur Kroatisch, da, vermutlich, ihre Tochter , neben ihr stand, und dolmetschte. Jetzt scheuchte die alte Frau ihre Tochter aus dem Weg, um in einem beachtlichen Tempo die winzige, schmale Stiege ganz am Ende des Ganges hinaufzusteigen. Ich hatte die Treppe zuerst gar nicht bemerkt. Auf der Hälfte der Strecke drehte sie sich zu uns um, keifte uns etwas auf Kroatisch entgegen, das ihre Tochter nicht übersetzen musste, da sie uns gleich darauf mit beiden Händen bedeutet ihr zu folgen.
Oben angelangt betreten wir eine zweite seperate Wohnung mit zwei Zimmern plus Bad und Küche. Alle Räume waren nostalgisch eingerichtet, und von der Küche aus hatte man einen wundervollen Blick auf das Meer. Mit einem freundlichen Lächeln entließ uns die alte Frau in unseren kleinen persönlichen Ozean auf Zeit. Ich lächelte glücklich zurück, und sie kniff mir in die Wange, als wäre ich fünf. Daraufhin beschloss ich, ihr nicht mehr zuzulächeln, wenn ich so nah bei ihr stand. Mit meinem Koffer und meiner alten Büchertasche verzog ich mich, mit einer roten Backe, in das Zimmer, dass für die nächste Woche das Kinderzimmer sein sollte. Sofort als ich den recht großen, blassblau Tapezierten Raum betrat, entschied ich mich für ein schmales Metallbett, von dem aus man die Altstadt sehen konnte. Ich stellte meinen Koffer an das Fußende des Bettes, legte meine zum bersten volle Büchertasche am Fensterbrett ab, nahm mir eines der Bücher, warf mich aufs Bett, begann zu lesen, und vergaß die Welt um mich herum.

Die UnendlichenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt