Kapitel 4: geteilte Geheimnisse

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„Darkness cannot drive out darkness: only light can do that. Hate cannot drive out hate: only love can do that." - Martin Luther King Jr.

Erst im zweiten Moment riss ich erschrocken die Augen auf, lies den Deckel des Flügels zu schnappen und schnellte herum.
„Die kleine Violet Reese kann also auch Klavier spielen..." sagte sie wenig beeindruckt und klatschte lässig.
„Ja ein bisschen..." stammelte ich kleinlaut, ehe ich mich wieder fasste. „Wie auch immer...Verdammt noch mal, was willst du hier Brooklyn? Und wie lange bist du schon hier?... Ach ist eigentlich auch egal, hau einfach ab! Du weißt schon, dass du eigentlich gar nicht hier sein darfst?!" Sie grinste amüsiert. Aber Brooklyn, die in der ersten Reihe saß, machte keine Anstalten sich vom Fleck zu bewegen. Im Gegenteil. Sie schien es sich nur noch bequemer zu machen. „Ja genau... Aber warte doch mal einen Moment. Du darfst doch genauso wenig hier sein oder?" Erwiderte sie. Ich schnaufte.
„Hast du mich für heute nicht schon genug gedemütigt?!" Brooklyn zog belustigt eine Augenbraue nach oben.
„Ich habe dir doch gar nichts getan!" antwortete sie verschmitzt. Ich seufzte und versuchte Worte zu finden, aber außer... „Ich... Du bist unmöglich... Ach vergiss es einfach!" kam dabei nichts raus. Brooklyn lachte kurz auf. „Ich habe dich doch nur angesehen... den ganzen Tag... ich habe dich nicht einmal berührt!" In mir begann es plötzlich zu kochen. Ich sprang auf, hüpfte von der Bühne direkt vor Brooklyns Füße und sah sie von oben herab an.
„Manchmal ist es viel schlimmer einfach nur zuzusehen, anstatt was zu machen. Aber das verstehst du natürlich nicht. Dafür müsste man sowas wie emotionale Intelligenz besitzen. Und dafür ist unter deinem vielen Make up sicher kein Platz mehr." Brooklyn sah für einen Moment wie ein getroffener Hund aus, bis sich ihr Gesichtsausdruck in eine Art Wut verwandelte.
„Ja Süße, ich versteh schon... ich bin das böse, böse Mädchen, dass dein kleines Herz so doll kaputt gemacht hat!...Noch irgendwas Little-miss-ich-kann-alle-verändern-wie-es-mir-passt? Oder hat die kleine Ich-sehe-in-allem-etwas-Gutes jetzt doch wieder die Hosen voll?" Ich biss meine Zähne zusammen und ballte die Fäuste.
Und dann erinnerte ich mich plötzlich an seine Worte. „Wenn andere dir mit Liebe begegnen, gib ihnen diese Liebe zurück. Wenn andere dir jedoch mit Hass begegnen, verbreite doppelt soviel Liebe. Sie haben mehr Schmerzen erfahren als du und ich es uns jemals vorstellen können. Und sie werden nur von diesen Schmerzen gesteuert. Die einzig richtige Entscheidung, die du also jemals treffen kannst, ist die Liebe."
Ich hielt Brooklyn meine ausgestreckte Hand hin.
„Es tut mir Leid, Brooklyn..." Brooklyn verdrehte die Augen und sah angewidert auf meine Hand. Ich gab auf. Soll sie doch machen was sie möchte. Ich habe wirklich Etwas in ihr gesehen. Etwas, was andere vielleicht nicht gesehen haben. Ich habe es versucht.
„Ach vergiss es einfach, ok?!" Ich sah Brooklyn noch einmal an, die nur widerwillig sitzen blieb. Ich drehte mich schulterzuckend um, nahm mein Zeug und steuerte auf die Hallentür zu. „Violet! Warte!" rief mir Brooklyn hinterher. Ich hielt nicht einmal inne, sondern drehte mich nur kurz im Laufen um. „Wieso? Um wieder von dir beleidigt zu werden? Vergiss es! Ich habe wirklich versucht, in dir etwas anderes zu sehen, als nur diese arrogante, kalte Oberfläche. Aber an Scherben schneidet man sich ja bekanntlich..." „Violet, ich habs nicht so gemeint! Ich kann das manchmal nicht ablegen! So bin ich nun mal! Es ist verdammt schwer das mal für nur einen kleinen Moment bei Seite zu legen!" Ich drehte mich wieder um und hielt nur meinen Mittelfinger nach oben. Gerade als ich nach der Türklinke greifen wollte, hallte eine ungewöhnliche Stimme durch den ganzen Saal, wie ich sie vorher noch nie gehört hatte. Etwas zittrig, aber ganz sanft. Mit verschränkten Armen drehte ich mich zu Brooklyn um, die Tatsache auf der Bühne stand und sang. „Was wird das jetzt?" rief ich. Aber sie sang einfach weiter. Als sie aufhörte stand ich immer noch mit verschränkten Armen vor ihr, war aber schon ein Stückchen näher zur Bühne geschlendert.
„Du hast mich gefragt, was ich hier mache. Thats it! Hier hast du die Antwort.... Zufrieden?" Ich musste zugegebenermaßen ein bisschen schmunzeln. Über die Brooklyn, die jetzt etwas bedröppelt auf der Bühne stand und mich hoffnungsvoll an sah. Als würde sie um Verzeihung bitten.
„Wie, das ist alles? Das ist dein großes Geheimnis? Dass du singen kannst? Ich hätte irgendwie ein bisschen mehr von so einem geheimnisvollem Glammergirl wie dir erwartet. Ne Leiche im Keller oder so! Wäre um einiges spannender."
„Eyy du bist die Einzige, die das weiß! Das könntest du ruhig etwas mehr würdigen!" fauchte Brooklyn gereizt. „Nicht einmal meine engsten Freunde wissen das und ganz ehrlich, wenn meine Eltern das wüssten, würden die mich tatsache umbringen! Du darfst das also niemandem erzählen, kapiert!"
Mir wich plötzlich die Farbe aus dem Gesicht, bei dem Gedanken, dass ich ein Geheimnis mit Brooklyn teilte. Dieses mal war mir nicht mehr nach Späßen zu mute.
„Wirklich?" Brooklyn seufzte auf.
„Ja, natürlich. Die würden mich sofort enterben. Die denken, singen ist ja nicht mal ein Talent oder überhaupt nützlich. Geschweige denn, dass es mehr als ein Hobby sein kann. Weißt du, ich habe immer von einer Karriere als große Sängerin geträumt, auf den Bühnen der Welt, das beste Leben lebend. All das. So richtig Leben eben. Aber weißt du was? Einige Dinge, werden immer ein Traum bleiben." Brooklyn lachte abfällig auf. „Ach wem erzähle ich das schon? Solche Probleme kennst du gar nicht."
Ich musste unbehaglich schlucken. Wenn sie nur wüsste... „Es tut mir wirklich leid, Brooklyn. Man macht sich nicht über die Träume anderer lustig. Das zeigt nur, wie unzufrieden man mit sich selbst ist... Ich muss wohl auch noch an mir arbeiten. Aber wer muss das nicht oder?
Sag auf jeden Fall nicht sowas. Träume sind dafür da um aus ihnen Wirklichkeit zu machen... Ich meine, du bist gut! Gib dich nicht selbst auf!" Ich lächelte sie sanft an. Brooklyn sah zu mir auf, mit großen Augen.
„Du glaubst wirklich, dass ich gut bin oder? Das sagst du nicht nur so!" Sie sah mich ehrlich erstaunt an.
„Natürlich glaub ich das!" Und für einen kurzen Moment, sahen wir uns sehr vertraut an. „Danke Violet!" murmelte Brooklyn. Ich verkniff mir ein Grinsen. Es fühlte sich, an als würde ich diesmal wirklich vor Glück platzen. Auch mit den klebrigen Haaren und meiner zerbrochenen Brille in der Hand. Manchmal kann ein bestimmtes Wort so viel bedeuten, wie nicht einmal tausend zusammen. „Jetzt kennst du mein Geheimnis und ich deins. Also sind wir jetzt cool miteinander?" Brooklyn reichte mir ihre Hand.
„Wie wärs wenn du hier hochkommst und wir spielen zusammen etwas?" Nun war ich diejenige, die Brooklyn ungläubig ansah. „Wie? Wirklich jetzt?" Ich begann leicht zu zittern. Brooklyn fiel eine blonde Haarsträhne ins Gesicht, als sie sich weiter zu mir nach unten beugte.
„Na komm schon!" Und ich nahm Tatsache ihre Hand und kroch auf die Bühne, auf der ich wieder leicht von dem Schweinwerferlicht geblendet wurde. Etwas nervös zupfte ich mir meine Kleidung zurecht und setzte mich wieder an den Flügel. Ich starrte auf die Tasten, die ein bisschen vor meinen Augen verschwammen.
Brooklyn schien zu bemerken, dass ich leichte Probleme hatte, seitdem meine Brille dem Erdboden gleichgemacht wurde.
„Das mit deiner Brille tut mir wirklich leid!" sie lächelte mich etwas schief, aber aufmunternd, an. Als würde ihr Blick sagen, dass alles in Ordnung ist und es in diesem Moment keine Sorgen und Probleme gibt, sondern nur uns. Es fühlte sich an, als wäre eine merkwürdige Energie entstanden, durch die ich Brooklyn immer näher kommen wollte. Ich wollte mehr sehen. Ich wollte wissen, was in ihr vorging. Es fühlte sich so ähnlich an, wie wenn ich die Straße entlang ging und fremde Menschen sah. Manchmal schaute ich in ihre Gesichter und fragte mich, woher ihre Sorgenfalten kommen oder welche Abenteuer ihre Lachfalten erzählen. Ich fühlte mich jedesmal ganz merkwürdig bei dem Gedanken, dass wir tagtäglich so viele Menschen sehen, ihr Äußeres beurteilen, aber nicht ihre Geschichten kennen. Jeder Mensch hat etwas, was ihn aus dem tiefstem Inneren bewegt und wir sehen jedes mal nur einen Bruchteil davon. Wir sehen die Menschen zum Beispiel in der Bahn lesen und wissen nicht, was sie dabei fühlen. Ob sie sich mit den Charakteren freuen oder ihre Schmerzen teilen. Wir sehen sie in einer Bar einen Kaffee trinken und wissen nicht ob sie nur eine Pause überbrücken oder sehnsüchtig auf jemanden warten. Da sind tausend Möglichkeiten oder sogar unendlich viele. Weil jeden eine einzigartige Geschichte prägt. Wir sehen Gesichter und wissen nicht, was diese Menschen schon durchgemacht haben. Vor uns kann der größte Kämpfer stehen und wir wüssten es nicht einmal. Und bei Brooklyn wurde das Verlangen, diese Geschichte zu sehen auf einmal unerträglich stark.
„Schon gut." Ich lächelte zurück und versuchte meine Gedanken abzuschütteln.
„Kannst du denn überhaupt ohne deine Brille spielen?" Brooklyn sah mich besorgt an, ehe sie merkte, dass sie mich bereits ohne meine Brille hatte spielen sehen.
„Ok, doofe Frage. Ich meine, wie... Wie kannst du ohne deine Brille spielen? Ohne die Tasten zu sehen? Das muss doch für dich sein, als würde schwarz und weiß einfach miteinander verschmelzen!" Ich zuckte mit den Schultern. „Naja so schlimm ist es jetzt auch nicht. Ich kann ohne Brille schon sehen, nur nicht so gut. Es ist nur alles ein wenig verschwommen, als würde man durch den Regen gehen und alles beginnt ein wenig zu schwimmen. Aber um ehrlich zu sein, fällt es mir sowieso viel leichter, mich einfach treiben zu lassen. Ich mache die Augen zu und alles passiert ganz von alleine. Ich höre nur auf die Musik und spiele das, was sich richtig anfühlt. Ich muss nicht auf die Tasten sehen um mich von der Melodie tragen zu lassen, die mein Herz schlägt. Und auch wenn es ohne Brille vielleicht ein wenig verschwommen ist, macht es mir nichts. Manchmal rast die Welt auch zu schnell, dass ich die Augen zu machen muss, um inne zu halten und dann ist die Musik mein einziger Halt. Mit oder ohne Brille, spielt also ohne hin keine Rolle. Das Einzige was mich sowieso hält ist diese Melodie. Und egal ob dann Dinge ein bisschen verschwommen in meinem Kopf sind oder auch da draußen, gibt es da diese Dinge, die mich halten und mir das Gefühl geben, nicht allein zu sein.
Aber ganz ehrlich, du musst doch auch nichts sehen um zu singen oder? Du machst das doch auch aus dem Bauch heraus! Das Wichtigste, wenn man singt und spielt ist doch die Leidenschaft und auszudrücken, was man fühlt oder wer man ist. Oder?" Brooklyn schien ein bisschen überwältigt zu sein.
„Irgendwie schon... So habe ich das noch nie betrachtet. Vielleicht werde ich ja wirklich irgendwann mal mehr als nur eine hohle Barbie, wenn du mich nur weiter so schlau bequatschst." Brooklyn musste lachen. Ich lachte mit, aber in Wirklichkeit wurde mir einfach nur ganz warm ums Herz und ich wurde überflutet von Dankbarkeit. Niemals im Leben hätte ich erwartet, mit Brooklyn Young im selben Raum zu sein und ihr so etwas zu sagen ohne mich zu schämen. Eigentlich hatte ich nie erwartet mal so etwas wie tiefe innere Verbundenheit mit jemandem zu fühlen. Aber da war sie plötzlich.
Durch die Dankbarkeit, für diesen Moment. Für den einzigartigen Theaterraum, für meine Träume und auch für Brooklyn.
Und für was bist du Dankbar?

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