35. sei l'essenziale per me

475 46 31
                                    

Ganz sanft legten sich seine Lippen an meine, zärtlich, als hätte er Angst, er würde mich verletzen. Ich schmeckte den Whiskey auf seinen weichen Lippen, roch den Alkohol, doch es war nichts im Vergleich zum Gestank der Männer vorhin. Ich befand mich in einem totalen Rauschzustand. 

Es tat so gut! Es heilte mein kleines, zerschundenes Herz, ich fühlte mich so geborgen und sicher wie noch nie. Endlich war ich Zuhause. Niemand konnte mir etwas antun, er würde auf mich aufpassen. Niall war da für mich. 

In Sekundenschnelle hatte Niall mich hochgehoben, sodass ich nun rittlings auf seinem Schoß saß. Meine Hände vergruben sich in seinen Haaren, leise seufzte er in den Kuss. Vielleicht brauchte er meine Nähe genau wie ich seine, vielleicht brauchte er jemanden, der ihm Halt gab – genau wie ich. Seine Lippen fühlten sich so gut auf meinen an, als wären sie dafür gemacht worden. Als wären wir füreinander geschaffen worden. 

Zärtlich streichelte er meinen Rücken, ganz behutsam umfasste er meine Taille, als hätte er Angst, mich zu zerbrechen. Es waren nicht dieselben widerwärtigen Berührungen der Männer von vorhin, ganz leicht streichelten seine Hände über meine nackte Haut. Die Stelle, an die er seine Hände legte, begann zu prickeln, eine Gänsehaut fuhr über meinen Rücken. 

Er machte alles wieder gut, was die Männer vorhin zerstört hatten, machte alles gut, was Alex in den letzten Wochen kaputt gemacht hatte. Er zeigte mir, wie sich die Berührungen eines Mannes wirklich anfühlen sollten. Niall heilte die tiefe Wunde in meinem Inneren.

Unser Kuss wurde immer fordernder, leidenschaftlicher und drängender. Ungeduldig krabbelte meine Hand unter sein Shirt und in nur wenigen Sekunden zog er es aus, was unsere Lippen voneinander trennte. Tränen verklebten meine Wimpern, die Wangen waren noch immer nass von Weinen, doch es war bedeutungslos. Nichts zählte.
Vorsichtig legte er seine Hände auf den Bund der Jogginghose, die er mir gegeben hatte.

„Stopp, nein!" Keuchend schubste ich Niall von mir und sprang auf. Nein, das eben konnte nicht passiert sein, ich musste es mir eingebildet haben... Was hatte ich mir nur dabei gedacht? „Hör auf, wir müssen aufhören!" In wirren Sätzen versuchte ich mich zu erklären, doch immer wieder drängte sich ein Gedanke in den Vordergrund. Du hast einen anderen geküsst. Du hast Alex betrogen. Schon wieder ein anderer. Du hast Alex betrogen.

Voller Zorn ballte ich meine Hände zu Fäusten. Ich war wütend auf die Idioten von vorhin, wütend auf Niall, wütend auf die welke Topfpflanze in der Ecke, doch am meisten auf mich selbst. 

„Das... Das hätte nicht passieren sollen, tut mir leid, Lottie", murmelte Niall und raufte sich nervös die Haare. Schnell warf ich ihn einen ängstlichen Blick zu. Ich war so dumm!

In Windeseile zog er sich sein Oberteil wieder über und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Sein hübsches Gesicht, das mich immer an einen kleinen Engel erinnerte. Schon wieder liefen Tränen über meine Wangen. Wieso musste alles so verrückt sein? Es war so verkorkst! Ich hatte einen anderen geküsst. Ich hatte Alex betrogen. Immer wieder drang dieser Satz in mein Bewusstsein. Wie konnte ich so blöd sein?

Mit klopfendem Herzen sah ich ihn an. Nein, es war nur ein dummer Ausrutscher gewesen, nur ein Kuss. War es nicht. Ich versuchte die Stimme in meinem Kopf auszublenden, doch sie drängte sich unermüdlich in den Vordergrund. Es war eine Lüge, es war nur ein Kuss.

Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen, doch sie kreisten immer schneller in meinem Kopf. Nur eines war mir klar: ich hatte gerade eben Gefühle empfunden, von denen ich nicht im Geringsten geahnt hatte, dass sie existierten. 

Das wohl Erschreckendste am ganzen Abend. Verzweifelt schlang ich meine Arme um meinen Körper.

„Es tut mir so leid!" Seine Stimme brach, noch immer sah er nicht auf. „Vielleicht ist es besser wir vergessen das Ganze. Du bist aufgewühlt, ich bin betrunken... es war einfach nur ein dummer Fehler, sonst nichts!" Fast unmerklich nickte ich. 

Es war ein Fehler gewesen, nur ein Fehler. Bedeutungslos. Es würde so sein, als hätten wir uns nie geküsst, niemand würde davon erfahren. Wir waren beide nicht Herr unserer Sinne gewesen.

„Komm mit, ich zeige dir, wo du schlafen kannst!" Mit einem leisen Seufzen erhob er sich vom Sofa und lief in den Flur. Zögernd folgte ich ihm. Niemals in meinem Leben hatte ich gedacht, dass ich Alex betrügen würde. Mit Niall. Nein, ein Star reichte mir nicht aus – ich musste mir gleich zwei davon schnappen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, küsste ich beste Freunde innerhalb kurzer Zeit, die beide nicht mein Freund waren. Wie blöd konnte man eigentlich sein?

Zögernd ließ ich mich auf dem großen Bett nieder. Ich wagte es nicht in Nialls Augen zu sehen, ich wollte nicht seine Enttäuschung sehen, den Frust in seinem Blick. Er wusste genauso gut wie ich, dass wir einen riesengroßen Fehler gemacht hatten. Der Kuss hätte nie passieren dürfen, wir beide wussten das. 

„Ich glaub es wäre besser, wenn ich nach Hause gehe", sagte ich halblaut. Die Lüge rutschte ganz leicht über meine Lippen. Ich wollte nicht alleine sein, ich hatte Angst, nach draußen zu gehen. Noch immer spürte ich ihre schmutzigen Hände an meinem Körper, ihren heißen Atem in meinem Nacken, hörte ich hämisches Lachen. Ich hatte das Gefühl, sie würden hinter jeder Straßenecke in ihrem blöden Auto auf mich warten.  

„Quatsch, natürlich bleibst du da! Ich... ich bleib im Wohnzimmer, nur für den Fall, dass du etwas brauchst. Versuch ein bisschen zu schlafen", hörte ich Niall sagen. Noch immer traute ich mich nicht, ihn anzusehen. Was wohl in ihm vorging? War er verletzt, enttäuscht, wütend? Er war so wundervoll... schon wieder kümmerte er sich um mich. Obwohl er mich nicht kannte und ich ihm absolut nichts bedeutete, war er einfach für mich da. Schon wieder.

„Niall?" Nur ein leises Flüstern kam über meine Lippen, doch er blieb mitten in der Tür stehen und wandte sich um. Endlich hob ich meinen Blick. Endlich sah ich in diese himmelblauen Augen, die mich so besorgt musterten.

„Bleibst du bei mir?"

Nachdenklich sah er mich an, dann nickte er leicht. Langsam kam er auf mich zu und nahm er mich in den Arm.

"Immer."

CluelessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt