Die Stimmung zwischen den Beiden war nach dem kleinen Zwischenfall angespannt geblieben. Sie sprachen nur knappe Sätze miteinander und verabschiedeten sich verkrampft vor der Turnhalle voneinander. Jetzt saß der Braunhaarige in einem überfüllten Hörsaal in der hintersten Reihe und kaute gedankenverloren auf einem Kugelschreiber herum. Warum hatte er die Situation nicht wie sonst auch mit einem Scherz abtun können? Das war doch normalerweise eine seiner leichtesten Übungen? Er schaffte es immer anderen ein gutes Gefühl zu geben, egal wie brenzlich es gerade wurde. Er selbst war selbstverständlich bei weitem nicht so entspannt wie es dann schien. Sein präzises Zuspiel kam nicht von ungefähr. Er konnte andere Menschen und Situationen in Sekundenschnelle analysieren und vorteilhafte Strategien entwerfen. Was ihm beim Volleyball eine erfolgreiche Karriere versprach half ihm auch im Alltag oft weiter. Erst letztens hatte er mit einem Lächeln auf den Lippen den Streit zweier betrunkener Kunden im Supermarkt geschlichtet. Als er fertig war hatten sie zusammen gelacht und einer der bulligen Typen hatte ihm schulterklopfender Weise entgegengebracht: "Du bist schon ein cooler Typ. Nimmst alles locker, oder?" Oikawa hatte darauf gegrinst und den Daumen in die Luft gereckt. Als die Beiden Arm in Arm durch die automatische Schiebetür verschwunden waren hatte er sich hinter der Kasse an der Theke Richtung Boden gleiten lassen und versucht seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. Die beiden Schlägertypen waren nicht nur körperlich deutlich kräftige als er, durch den Alkohol waren sie auch bis aufs äußerste aggressiv gewesen. Natürlich hatte er Schiss in der Situation! Was dachten die Leute nur immer von ihm? Dass ihn gar nichts juckte? Er seufzte. Aber was sollten sie auch anderes denken. Er selbst setzte schließlich alles daran, dass sie diesen Eindruck von ihm hatten. Er wollte undurchschaubar sein. Dem Gegner nicht verraten, was seine nächste Aktion war. Das klappte auf dem Spielfeld auch wunderbar, oft gekrönt von Erfolg in Form von Punkten. Im Alltag hatte sein Pokerface jedoch nicht nur angenehme Konsequenzen. Er schaffte es zwar so gut wie immer eine Situation für andere zum Positiven zu wenden, seine eigenen Bedürfnisse gingen jedoch häufig unter. Wenn er genervt war, wenn es ihm körperlich schlecht ging, wenn er müde war ... immer setzte er ein heiteres Lächeln auf um den Schein zu waren. Es gab eigentlich nur eine Person, die dahinter sehen konnte, Iwa. Ein erneutes, deutlich schwereres Seufzen entwich seiner Kehle. Hajime und er waren wie zwei gegensätzliche Pole. Sie besaßen gänzlich unterschiedliche Eigenschaften und klebten dennoch fest aneinander, schon immer. Der Zuspieler verhielt sich natürlich auch gegenüber seinem Teamkollegen immer mit gespielt alberner Fröhlichkeit. Meist reagierte dieser auch mit der erwartet grummeligen Verhaltensweise, doch ab und zu war es anders. Ab und zu hatte Oikawa das Gefühl Iwa würde ihn spöttisch anlächeln. Als wolle er sagen: Vergiss es. Du kannst mit deinem Affentanz vielleicht die anderen täuschen, aber mich nicht. Und dann bekam er Angst. Angst, dass sein Freund ihn durchschauen könnte. Angst, dass die mühsam aufgerichtete Mauer zu bröckeln anfing. Der Gedanke versetze ihm einen Stich. Es hatte schon Situationen gegeben, in denen Iwaizumi ihm nur zu deutlich gezeigt hatte, dass er ihn besser versteht als jeder andere. Damals in der Mittelschule zum Beispiel, als er so furchtbar frustriert wegen Tobio war. Niemand hatte es so richtig gesehen. Sie haben alle gedacht, er hätte halt eine schlechte Zeit und würde schon wieder zu seiner alten Form zurückfinden. Niemand hatte ihn darauf angesprochen, ob es ihm schlecht ginge, ob er Hilfe bräuchte. Niemand, bis auf Iwa. Auf eine zugegebenen Maßen körperlich sehr grobe Weise, aber er hatte ihn da wieder rausgeholt. Der Braunhaarige schmunzelte als er sich an die Zeit zurückerinnerte. Damals war alles noch so unschuldig gewesen. Jetzt sah das Ganze anders aus und das verkomplizierte die Angelegenheit. Schon früher fand er es nicht sonderlich toll, wenn der Außenangreifer ihn durchschaute und Tacheles mit ihm redete, doch jetzt hätte es dramatische Folgen. Im schlimmsten Fall würde er seinen besten Freund und gleichzeitig seine große Liebe verlieren. Seine Ohrspitzen liefen rosa an. Große Liebe. Was kamen ihm denn da für kitschige Gedanken in den Sinn. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er warf einen Blick auf die Leinwand mit den Vorlesungsfolien und stellte resigniert fest, dass er vollkommen den Faden verloren hatte. Er würde sich die Inhalte zu Hause noch einmal zu Gemüte führen müssen. Dann könnte er jetzt genauso gut über eine Lösung für sein Problem nachdenken. Er stützte sein Kinn auf eine Hand ab und begann mit der anderen auf seine Notizen zu kritzeln. Was waren seine Alternativen? Erstens, er ignorierte das ganze Desaster und hoffte das Beste. Ein sarkastisches Schnauben entwich ihm. Genau, als ob das überhaupt als Alternative gelten könnte. Zweitens, er sagte Iwa, was er für ihn empfand. Bei dem Gedanken presste er angespannt die Lippen aufeinander. Auch diese Möglichkeit betrachtete er nur begrenzt als Option. Natürlich könnte er sich dazu durchringen. Er könnte sich seinen besten Freund schnappen, sich an ihn klammern und ihm mit verheultem Gesicht gestehen, wie sehr er ihn liebe und dass er immer bei ihm bleiben wolle. Nur hatte er viel zu große Angst, dass dies zum genauen Gegenteil führen würde. Vor seinem inneren Auge sah er den Schwarzhaarigen angeekelt vor ihm zurückweichen, seine Koffer packen und ihm die Freundschaft kündigend die gemeinsame Wohnung verlassen. Bei dem Gedanken legte sich ein tonnenschweres Gewicht auf seine Brust. Nein, das Risiko würde er nicht eingehen, niemals. Dritte Möglichkeit, seine Fassade musste besser werden. Nachdenklich tippte er mit dem Kugelschreiber gegen seine Lippen. Und wie erreichte er das? Er durfte einfach nicht mehr so unaufmerksam sein und es gar nicht erst zu Situationen wie heute Morgen nach dem Training kommen lassen. Das schien ihm die aussichtsreichste Alternative. Lautes Geraschel ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Der Professor hatte die Vorlesung beendet und seine Kommilitonen waren dabei ihre Unterlagen in den Taschen zu verstauen. Schnell tat er es ihnen gleich. Heute Abend würde er Gelegenheit haben, seine neue Strategie auszutesten.
Das Schicksal schien ihn auf die Probe stellen zu wollen. Er hatte gerade Mut gefasst, sich sein neues Ziel vor Augen geführt und war mit festen Schritten in die Umkleide getreten, als ihn der erste Schlag traf. Neben fünf weiteren Mannschaftskollegen hatte sich auch der dunkelhaarige Angreifer bereits eingefunden und stand nun nur in Boxershorts bekleidet vor ihm. Das ging ja gut los. Der Zuspieler setzte ein heiteres Lächeln auf und suchte sich einen Platz an der entgegengelegenen Wand, um ihm den Rücken zudrehen zu können, ohne, dass es auffällig gewesen wäre. "Wie war dein Tag Iwa-Chan?", fragte er fröhlich, den Blick auf seine Sporttasche gerichtet. Der Angesprochene hielt kurz inne, als müsse er überlegen, ob sein Gegenüber die Situation von heute Morgen bereits vergessen hatte. Er schien zu beschließen, dass dies der Fall war und wollte offensichtlich das Ganze nicht noch einmal aufwärmen. "Ganz gut", gab er von sich, während er sich ein Sport-Shirt über den Kopf zog. "Kann ich später was an dir ausprobieren?" Der Braunhaarige drehte sich langsam um und hob fragend eine Augenbraue. "Etwas an mir ausprobieren?" Gespielt ängstlich kreuzte er die Arme vor der Brust und drehte sich verschüchtert weg. "Iwa-Chan, du Perversling!" Er erntete ein genervtes Schnauben für seine Schauspieleinlage. "Halt die Klappe Shittykawa! Ein Prof hat uns heute was gezeigt, was ich gerne üben möchte." "Nicht schon wieder Blut abnehmen! Das kannst du vergessen!" Jetzt tatsächlich empört stemmt der Größere die Fäuste in die Hüften. "Nein, nein. Und sorry nochmal deswegen", kam es kleinlaut von dem anderen Spieler. Der Dunkelhaarige war und blieb ein Angreifer, mit allen Konsequenzen. So gut er auch darin war ihn einzurenken, wenn sein Rücken Probleme bereitete, so wenig konnte er filigrane Arbeiten durchführen. Und bis er zielsicher Oikawas Venen getroffen hatte sahen dessen Arme wie die eines Junkies aus. "Wir hatten heute einen Gast-Professor da", setzte der Kleinere erneut an, "und der hat uns eine Massagetechnik für Muskelkrämpfe gezeigt. Ich glaube das könnte was Hilfreiches für das Team sein, deswegen möchte ich es üben." Innerlich heulte der Braunhaarige auf. Eine Massage? Ernsthaft? „Meine Muskeln sind einfach zu perfekt trainiert, um Krämpfe zu bekommen", gab er affektiert von sich und grinste. „Üb doch an Takahashi oder Yamamoto." Sein Zeigefinger wanderte zu den beiden großen Mittelblockern, die sich ebenfalls umzogen. „Hey! Oikawa du Idiot! Willst du damit sagen meine Muskeln wären schlecht trainiert?" Der kleinere der beiden sah ihn missmutig an. Takahashi hatte sich sein Shirt über den Kopf gezogen und gab ebenfalls kratzbürstig zurück: „Vergiss es. Das Versuchskaninchen für unseren Herrn Doktor in Spe darfst du spielen." Die beiden klatschten ab und verschwanden im Halleninneren. Der Zuspieler spürte einen Schlag auf seinen Rücken und zog eine Schnute. „Tja Shittykawa, an sowas hättest du denken sollen, bevor du mir permanent am Rockzipfel gehangen bist." Da hatte er sich ja in eine schöne Scheiße reingeritten. Die beiden großen Mittelblocker würden jetzt beleidigt allen anderen Teammitgliedern von der Aktion erzählen und ihm somit jegliche Chance nehmen, die Rolle der Versuchsperson auf jemand anderen abzuschieben. Er seufzte schwer. Das wurde langsam zur Gewohnheit. In seinem Kopf entstand ein neuer Plan. Wenn er die Situation nicht verhindern konnte, musste er sie zumindest entschärfen. Er würde sich beim Training so auspowern, dass er die Massage vor Erschöpfung gar nicht mehr mitbekam. Durch diesen Gedanken motiviert lief er den anderen Spielern in die große Sporthalle hinterher und ohne zu zögern auf den Kapitän der Mannschaft zu. „Hey Nakamura! Ich habe schon ewig keine Sprungaufschläge mehr trainiert, ich glaube, daran sollte ich heute mal wieder arbeiten." Der muskulöse Schwarzhaarige drehte sich um und grinste. Er studierte International Business im siebten Semester, was so überhaupt nicht zu seinem Äußeren passte wie Oikawa fand. Er hatte breite Schultern, kurz geschnittene Haare und das Gesicht eines Schlägers. Den Kapitän der Universitäts-Volleyball-Mannschaft im Anzug und in Vertragsverhandlungen mit einer Reihe Finanzhaien konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. „Kein Problem Lover-Boy, dann nehme ich dich heute mal so richtig ran." Der Braunhaarige verzog seine Lippen zu einem gequälten Lächeln. Nakamura war ein feiner Kerl. Er nahm sein Studium ernst, managte zuverlässig die Mannschaft und schaffte es immer den Teamgeist hoch zu halten. Aber sein Ausdruck... Direkt beim ersten Training hatte er ihm diesen furchtbaren Spitznamen gegeben und es schien so, als würde dieser ihn noch bis zum Studienende des Kapitäns verfolgen. Er trabte locker um die aufgezeichneten Spielfelder herum um sich aufzuwärmen. Es hatte seinen Grund, warum er dennoch den muskulären Teamkameraden angesprochen hatte. Neben ihrem Libero war er es, der mit Abstand die sichersten Annahmen schaffte. An ihm vorbei zu kommen wäre eine Herausforderung und genau das brauchte er jetzt. Etwas woran er sich abarbeiten konnte. Grimmig grinsend steigerte er sein Tempo. Nach dem Training würde er vor Erschöpfung umfallen. Sollte Iwa-Chan doch kommen mit seiner Massage!
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Can I stay with you? (IwaOi)
FanfictionNach Abschluss der Oberschule entscheiden sich Oikawa und Iwaizumi gemeinsam für ein Studium in Tokio. Aufgrund der hohen Mietpreise ziehen sie gemeinsam in eine kleine Wohnung. Das Leben könnte so friedlich weitergehen, doch Oikawa hat ein Geheimni...