Abschiedsbrief

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Und hier sitze ich also. Vor dem Schreibtisch, den ich schon seit Jahren besitze, auf dem Stuhl, den ich erst seit Kurzem mein Eigen nenne.
Ich starre auf die kleine blaue Sonne, die du vor Jahren auf die Tischplatte gekritzelt hast.
Weiter links ist noch eine, aber das weiß ich nur, denn ich kann sie nicht sehen, weil sie durch das Blatt Papier verdeckt ist. Das leere Blatt Papier.

Eine Abschiedsrede soll ich schreiben. Eine Abschiedsrede, die ich morgen vor deinem Sarg laut vortragen soll. Ich weiß schon, wie ich die Tränen aus den Augen pressen, meine Stimme zum Stocken bringen und Hände zittern lassen werde.
Nur was ich sagen soll, weiß ich noch nicht.

Ich starre auf das Blatt vor mir. Es ist weiß, neu, rein. Reiner als du es eigentlich verdient hättest.

Es war keine Absicht sollte da stehen. Und Ich vermisse dich, Tamara.
Vermisse ich dich? Nein. Gar nicht. Nicht im Geringsten.
Komisch, wie leicht einem der Verlust eines geliebten Menschen doch fällt.
Geliebter Mensch.
Habe ich dich geliebt? Ja. Auf jeden Fall, schließlich warst du meine Zwillingsschwester. Ein Teil von mir. Der hübschere, bessere und schlauerer Teil. Der tote Teil.

Es war keine Absicht.
Natürlich war es das nicht. Ich habe dich nicht umgebracht. Jedenfalls nicht willentlich.
Keine Absicht. Keine Absicht.

Aber sag mir, waren auch die unzähligen Beleidigungen keine Absicht, mit denen du oftmals versucht hast, mein ohnehin schon beschädigtes Herz immer weiter zerbrechen zu lassen?

Du weißt schon, das Monster an unserem vierten Geburtstag, als ich mehr Geschenke bekommen habe, weil ich gerade von meinem langen Krankenhausbesuch zurückgekommen bin.
Oder das Du machst die Familie kaputt, als ich für kurze Zeit mit dem Rollstuhl habe fahren müssen und wir deshalb nicht nach Rio de Janeiro fliegen konnten.
Dabei hast du dich seit Jahren darauf gefreut.
Doch erzähl mir- war es meine Schuld? War es meine Schuld, dass etwas im Bauch unserer Mutter falsch lief und ich krank auf die Welt kam? War es meine Schuld, dass ich mich fast neunzehn Jahre lang nicht vollständig bewegen konnte? War es meine Schuld, dass unsere Eltern ständig ihre kranke Tochter bemitleidet und dich dabei vergessen haben?
Nein. Nein, es war nicht meine Schuld. Doch so war deine Ansicht und du hast es mich nie vergessen lassen.

Es war keine Absicht.
Stimmt das? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.

Wir waren wandern. Du hast es vorgeschlagen und ich Idiot dachte, du willst dich mit mir versöhnen. Es war immerhin der Tag vor unserem zwanzigsten Geburtstag und da rechnet niemand mit dem Tod, oder?
Ich hatte vor kurzem eine Therapie hinter mir und war beweglicher denn je, aber Berge waren schon immer unerreichbar gewesen.
Du schlugst sogar vor, die Seilbahn zu nehmen, aber mir entging deine Hand trotzdem nicht, als du sie weggezogen hast, weil ich mich daran festhalten wollte.
Wir waren oben, ganz weit oben, am Gipfelkreuz.
Vor uns die endlosen Berge, unter uns die kleine Stadt, da dachte ich, ja da dachte ich, dass wir es endlich geschafft haben. Wir, du und ich. Ich dachte und hoffte es und war mir sogar ziemlich sicher.
Aber du musstest es ja zerstören.
»Ich bin schwanger! « Mit leuchtenden Augen strichst du dir eine kastanienbraune Strähne hinter das Ohr und sahst mich an, aufgeregt auf meine Reaktion.
Mein Herz setzte aus. Das konnte nicht sein.
»Von Thomas?« Thomas würde ein guter Vater werden, obwohl ihr erst seit drei Wochen wieder getrennt wart.
Du lachtest, ein glockenhelles, nettes Lachen, eines, das du mir viel zu selten geschenkt hattest.
»Nicht Thomas. Max ist der Vater. «
Max. Mein Freund.
Ich brauchte keinen Spiegel, um es zu erkennen, denn ich konnte dir ansehen, dass meine Mimik nicht die von dir gewünschte Reaktion preisgab.
Die Gefühle-all die Gefühle, drangen an die Oberfläche. Oh Tamara, du kannst dir nicht vorstellen, was das für Gefühle waren.
»Du Schlampe!«, schrie ich. Nicht mehr, nicht weniger.
Aber es war genug, um dich einen Schritt nach hinten treten zu lassen. Und noch einen. Und einen weiteren. Bis da nichts mehr war.

»Hilfe!« Ich kann mich noch erinnern, als du da hingst. Unter dir ging es steil bergab.
»Hilf mir! « Ich blickte in deine grauen Augen, ebenso grau wie meine, und mein Herz raste. Da waren wir also, du hingst und ich stand, immer noch deinen letzten Satz im Sinn.
Max ist der Vater.
Max ist der Vater.
Max ist der Vater.
»Verdammt, hilf mir endlich! «
Ich zögerte. Hielt inne. Nur kurz, nicht lange. Für drei Sekunden, höchstens.
Dann stürzte ich nach vorne, um dir zu helfen.
Aber es war bereits zu spät.
Du warst schon verloren.
Du schriest. Es war laut. Lauter. Ohrenbetäubend laut. Und dann plötzlich ganz leise. Gespenstisch still.

Und hier sitze ich also auf meinem neuen Stuhl, den Stift in der Hand, das leere Blatt am von dir bekritzelten Tisch.
Es war keine Absicht.

Es geht um diesen einen Moment. Die paar Sekunden des Zögerns. Habe ich gewollt, dass du da runter fällst?

Wie von selbst gleitet mein Stift über das Papier. Als ich die Wörter darauf lese, schiebe ich es langsam von mir weg.
Ja, verdammt, steht dort.
Es war meine vollste Absicht.

MitternachtsnoemaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt