Traumfänger

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Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie mich erst bemerkt, als ich ihr aus dem Weg springe. Mit abwesendem Blick und lockeren, leichten Schritten geht sie durch die Straßen ohne wirklich hinzusehen. Sie steuert auf mich zu und ich bleibe stehen. Ihre Lippen verformen sich zu einem erschrockenen Oh, als ihre Schulter gegen meine stoßen. Pardon, murmelt sie und irgendwie klingt das Wort aus ihrem Mund so anders- positiv anders- so verdreht und falsch ausgesprochen, dass ich mir sicher bin, dass sie noch nicht viel Zeit hier in Frankreich verbracht hat.
De rien, antworte ich. Der Ausdruck geht mir mittlerweile leicht über die Lippen. Sie lächelt mir nochmal entschuldigend zu und wendet sich zum Gehen. Ich bin so fasziniert von ihrem Gesicht-ihren Augen, die im Licht der Straßenlaternen so seltsam glitzern und der schmalen Stupsnase, die sie ein wenig wie einen Zeichentrickcharakter aussehen lässt, dass ich sie etwas zu spät am Arm packte. Verwirrt bleibt sie stehen.
„Entschuldige, aber wie genau geht es hier zum Louvre?"

Es war überraschend leicht, ihren Instagramnamen zu bekommen; ich habe einfach gefragt. Sie hat nicht mal besonders erstaunt gewirkt, dass ich nach knapp dreißig Minuten Gespräch über französische U-Bahnen und die Mona Lisa nach ihrem Social Media Account gefragt habe. Jetzt weiß ich, dass sie Meira heißt und aus Spanien kommt. Dass sie seit etwa drei Monaten hier in Paris als Au Pair arbeitet, hat sie mir selbst erzählt.

Ich tue mir schwer damit, jemanden per Textnachricht nach einem Treffen zu fragen. Allerdings ist sie, seit ich vor sechs Monaten hier hergezogen bin, die erste Person, mit der ich mich zwanzig Minuten am Stück unterhalten habe. Abgesehen von meiner Tante natürlich, die mir die Einzimmerwohnung, in der ich lebe, für meine Studienzeit zur Verfügung gestellt hat. Viele Leute sind freundlich, aber für mehr ein paar Mal hin- und herschreiben hat es nicht gereicht. Vielleicht könnte ich mit Meira ein wenig Kontakt aufbauen.
Also schreibe ich ihr.
Ich frage sie, wie es ihr geht und bedanke mich nochmal für ihre Hilfsbereitschaft. Dass ich eigentlich genau gewusst hätte, wie es zum Louvre geht und sie nur angesprochen habe, weil ich sie sympathisch fand, muss sie ja nicht wissen.
Sie antwortet sofort.

Hey, ja voll gerne. Mir geht's gut, dir? (-:
Ich freue mich über die späte Antwort und frage sie, ob sie sich am Sonntag vielleicht treffen möchte. Ich hoffe, dass sie meinen Vorschlag angesichts unserer eintägigen Bekanntschaft nicht unangebracht findet. Eine Stunde später ist das Treffen fix.

Es ein wenig gedauert, bis das Eis zwischen uns endlich gebrochen ist. Sie erzählt mir von ihrer Gastfamilie und dem kleinen Géronimo, der immer so laut schreit, ihrer Familie und der Schule, die sie vor kurzem abgeschlossen hat. Erst als ich auf ihren Freund in Spanien anspiele, den sie auf Instagram in ihrer Biografie markiert hat, klärt sich ihr bisher distanzierter Blick ein wenig. Sie erzählt, dass sie ihn schrecklich vermisst und eine Fernbeziehung auch ziemlich kompliziert sein kann. Ich nicke wissend, obwohl ich keine Ahnung habe. Ich hatte nie eine ernsthafte Beziehung. Mit den Jungs in meinem Umfeld war ich immer rein platonisch befreundet.
Meira ist sehr aufmerksam. Sie erkundigt sich nach meinem Studium und fragt interessiert nach, als ich ihr erzähle, dass ich Literaturwissenschaften auf Französisch studiere, weil mir die Sprache liegt. Trotzdem ist es ungewohnt, nicht nur Smalltalkgespräche in der Fremdsprache zu führen. Obwohl ich irgendwie lieber Französisch spreche als deutsch, obwohl deutsch meine Muttersprache ist. Wir unterhalten uns ziemlich lange. Als ich das Café verlasse, bin ich ziemlich fröhlich. Ich glaube, Meira und ich könnten Freundinnen werden.

Die wöchentlichen Treffen gehen nicht nur von mir aus. Oft fragt Meira, wie es mir geht und was ich so mache und als wir schließlich Nummern austauschen, telefonieren wir manchmal auch.
Ich verbringe gerne Zeit mit ihr.
Wir spazieren gemeinsam an der Seine entlang und hören währenddessen Mamma Mia, gehen zusammen Joggen in frühherbstlichen Parks, essen Eis, obwohl es für September eigentlich zu kalt dafür ist, und liegen Schulter an Schulter in meinem Bett, während sie mir von den Dates mit ihrem Freund erzählt, der sie letzte Woche für zwei Tage besucht hat. Und davon, dass sie sich Sorgen um ihn macht, weil er die ganze Zeit so müde und abgekämpft wirkt, ihr aber nicht erzählen möchte, was eigentlich los ist. Ich finde, sie sollte endlich Klartext mit ihm reden und ihm klar machen, dass Beziehungen auf gegenseitigem Vertrauen basieren. Aber das traut sie sich nicht. Sie hat Angst vor seiner Reaktion.

MitternachtsnoemaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt