6. Kapitel

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Ab 1967 fand ich immer weniger Briefe von John. Einige kannte ich sogar nicht, hatte ich offenbar unbeantwortet gelassen, und es war mir sehr wohl bewusst, warum ich das getan hatte, weshalb diese Briefe immer noch verschlossen waren. Sie stammten aus der Zeit, in welcher ich Linda Eastman kennengelernt hatte. Sie war die Liebe meines Lebens. Doch das hatte John und mich auseinandergebracht. Seitdem hatten wir nie über unseren letzten Kuss und unsere verwirrenden, unausgesprochenen Gefühle gesprochen. Es blieb im Dunkeln, unerforscht und fremd. Unsere gemeinsame Zeit, in welcher wir uns so nah, so vertraut, gestanden hatten, welche so angenehm aufregend, gleichzeitig aber auch wie ein Traum ungewiss, ungeklärt und surreal, war, war vorüber. Bis heute wusste ich nicht, was John wirklich damals für mich gefühlt hatte. Hatte er mich möglicherweise tatsächlich geliebt?

Eine Träne rollte meine Wange hinab.

Es gab etwas. Einen Brief. Einen Brief, den ich bisher nie zu Ende gelesen hatte. Der Anfang allein hatte mich damals schon aufgewühlt, darum hatte ich ihn weggesperrt, vergessen und nie wieder angerührt.

Nun fand ich hier. Da befand er sich in meiner Hand, wog schwer in ihr, schwer wie Gold.

Mit zitternden Fingern holte ich ihn aus dem Briefumschlag und faltete ihn auseinander. Die Tinte wirkte beinahe frisch, als hätte John ihn erst gestern geschrieben, dabei war es schon so viele Jahre her, aus einer völlig anderen Zeit.


1969

Paul,

nun bist du mit Linda verheiratet. Ich weiß, du kannst Yoko nicht leiden – nein, du hasst sie sogar und ich kann es dir einfach nicht verzeihen.

Ich finde es furchtbar, wie du mit unserer Beziehung umgehst und muss sagen, dass ich mich auch nicht besonders über dich und Linda freue.

Doch während all meiner Grübeleien, während all meiner Gedanken über dich und Linda und deinen Hass auf Yoko, über uns Beatles, frage ich mich immer wieder, wieso du dich damals so aufgeführt hast? Warum hast du meine Gefühle nicht erwidert? Hat es dir nichts bedeutet, war ich nur so etwas wie ein Test für dich?

Es verletzt mich noch immer und ich verstehe es, egal, wie sehr ich mich anstrenge, immer noch nicht.

Doch nun ist es sowieso egal.

Die Zeit zwischen uns ist vorbei, Paul. Es ist gelaufen.

-John


Tränen tropften auf den Brief und verwischten die hastig voller Wut niedergeschriebenen Lettern. Seitdem hatte sich alles geändert. Und nun war John wirklich fort – für immer.


Der Trubel um mich und Linda hatte sich gelegt und es war angenehm, ein paar Minuten ohne Interviews über unsere Hochzeit zu verbringen. Ich liebte Linda und ich genoss unseren Hochzeitstag, doch allmählich fühlte ich mich ausgelaugt und war froh, hier in der Limousine zu sitzen und uns wegfahren zu lassen.

Nicht zum ersten Mal musste ich an John denken. Er war nicht da, steckte in irgendwelchen Problemen, doch es war mir irgendwie egal, vor allem, da ich wusste, dass er keinesfalls erschienen wäre, auch wenn er Zeit gehabt hätte. John wäre niemals gekommen.

Es ärgerte mich sosehr, wie es mich auch nicht interessierte. Einerseits war meine Wut, meine Verärgerung über ihn und Yoko und all sein Benehmen unkontrollierbar, andererseits wollte ich, dass es mich nicht kümmerte, dass ich gleichgültig damit umgehen konnte.

Ich schaffte es nicht.

Meine Liebe zu Linda war so stark, wie ich es noch nie zuvor gefühlt hatte, aber plötzlich erinnerte ich mich an John und mich. Ich erinnerte mich daran, wie er mich angesehen hatte. Ich spürte, wie seine Lippen auf meinen lagen. Ich fühlte, dass aufgewühlte Kribbeln in meinem Bauch, das Flattern meines Herzens, dass ständige Grübeln meines Kopfes, die wirbelnde Aufregung, wenn wir uns getroffen hatten. Diese Gefühle hatte ich nie bis zum Ende erforscht. Es blieb unergründet, unbeantwortet und ich würde wohl nie erfahren, was das zwischen mir und John gewesen war.

Aber es ließ mir keine Ruhe. Hatte John mich nur benutzt oder hatte ich ihm etwas bedeutet?

Warum fragte ich mich das? Es spielte keine Rolle mehr. John und ich verstanden uns nicht mehr, außerdem hatte er Yoko Ono und ich war unsterblich in Linda verliebt.

Doch mein Bauch grummelte und flatterte und ich bekam meinen Kopf nicht ruhig. Wie ich John noch genau vor mir sah... seinen Blick, seinen tiefen durchdringenden Blick, als könnte er meine Gedanken und Gefühle lesen, als wüsste er genau, was ich dachte, ohne, dass ich mir irgendetwas anmerken ließ. John kannte mich so gut wie kein anderer.

Wie sehr ich sein freches Lächeln geliebt hatte... Wie sehr ich seine Art mochte, die er nur mir offenbart hatte. Seine offene, ehrliche, völlig unmaskierte Art, die einfach nur ihn selbst widerspiegelte.

Enttäuscht starrte ich aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehende Welt. Lindas Hand lag in meiner und wir hielten unsere Finger verschlungen. John war nicht gekommen, wäre er nie und würde er auch in Zukunft nie. Er war egoistisch und ich erkannte ihn kaum wieder.

Beinahe wäre eine Träne aus meinem Auge gerollt. Ich wollte wütend sein, mich über ihn ärgern und ihn für diesen Moment vergessen, doch es tat weh und die alten Erinnerungen vermischten sich zu einem Gefühl, welches ich niemals mehr fühlen wollte. Sehnsucht nach John. Sehnsucht nach der damaligen Zeit, in welcher John mich mit seinem Blick fast auffraß. Ich sehnte mich danach, aber je größer die Sehnsucht wurde, desto stärker wurde die Enttäuschung und die Wunde in meinem Herzen. Es würde niemals heilen.

Ich sah John den ganzen Tag lang nicht.


Die Tränen waren nicht zu stoppen. Die ganze Leere, sie hatte sich aufgelöst und ließ nun Platz für meine Trauer. Sie wurde lebendig und materiell und lief in Form von Tränen aus mir hinaus. Ich schien flüssig zu werden und mich aufzulösen, während mein ganzes Gesicht verklebt und salzig war und ich es einfach nicht verhindern konnte. So gab ich mich den Tränen hin, starrte auf den Brief, hing meinen Erinnerungen nach und dachte an nichts. Hätte es anders kommen können? Wäre John dann womöglich nicht gestorben?

Ich konnte nicht darüber nachdenken. Der Schmerz wurde nicht kleiner. Er wuchs und fraß sich durch meinen Körper, aber ich wehrte mich nicht. Ich fühlte mich schwach, ausgelaugt, als hätten die Erinnerungen an John und mich mir jegliche Lebensenergie entzogen.

Ich hätte dir so viel zu sagen, John. Jetzt, wo ich all deine Briefe gelesen habe, könnte ich dir so viel sagen. Ich würde mit dir über alles reden wollen, würde wissen wollen, was du genau gefühlt hast, würde dir erzählen, warum ich mich so verhalten habe und wie gern ich ihn gemocht habe.

Es war zu spät.

In meinem Regal fand ich einen weiteren Brief. Es war der letzte.

Die Erinnerung daran war schmerzhaft, aber ich war bereit. Heute wollte ich mich meinen Erinnerungen stellen und es war die letzte und die wichtigste.

McLennon "Words Of Love"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt