5. Kapitel

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Während ich an der Wand lehnte und die Tränen meine Wangen hinab zum Kinn rollten, erinnerte ich mich an jenen Brief, auf welchen ich die gesamte Zeit gewartet hatte. Mit fahrigen Händen suchte ich nach ihm in all dem Briefgewirr und fand ihn schließlich, zerknickt und alt, mit Johns geschwungener Handschrift. Ein Tränenschleier verdeckte meine Sicht und ich berührte den Zettel behutsam. Dieser Brief – ach – wie oft hatte ich nachts wachgelegen, den Brief wieder und wieder überflogen, war an Worten hängengeblieben, hatte versucht, einen versteckten Hinweis zu finden, doch in Wahrheit hatte ich einfach nur nicht glauben wollen, dass das, was dort niedergeschrieben stand, bereits alles aussagte. Ich hatte es nicht glauben wollen und es von mir fortgestoßen.

Wieso?

Vorsichtig faltete ich den Brief komplett auseinander und strich ihn glatt. Ich hörte mein Herz in meiner Brust schlagen, während ich begann, Johns Brief nach so langer Zeit erneut zu lesen:


Dezember 1965

Lieber Paulie,

die Weihnachtstage sind so langweilig ohne dich. Morgen komme ich bei dir vorbei. Ich weiß, dass du Zeit hast.

Die Zeit ist seltsam, nicht wahr? Manchmal verstreicht sie einfach und wir können nichts dagegen tun. So ist sie auch wieder verstrichen und wir haben nicht noch einmal über uns geredet oder uns zu zweit getroffen, bei mir oder bei dir.

Ich vermisse dich.

Die Beatles scheinen uns aufzufressen, zu vereinnahmen, dabei möchte ich doch bei den Beatles sein, weil es mir Spaß macht und nicht, weil sie mich kontrollieren.

Verlieren wir uns aus den Augen?

Ich komme morgen zu dir und ich möchte, dass dieser Tag uns gehört. Denn du bist die Person, mit der ich tagelang allein sein könnte. Du bist die Person, die mich versteht, ohne, dass ich dir alles über mich erzähle.

Ich liebe dich, Paulie.

-John


Eine Träne verfehlte knapp den Brief und ich presste meine Hände vors Gesicht. Der Zettel segelte langsam zu Boden. All die Worte, der er geschrieben hatte, all seine Gefühle – er hatte sich so klar ausgedrückt und ich hatte diese Erkenntnis einfach nicht zugelassen. Warum war ich nur so dumm gewesen?


John betrat mein Haus, sah sich um, schwieg, blickte mich an. Es fühlte sich an, als würde Elektrizität zwischen uns surren, aufgeladene Luft, Strom, welcher eine Spannung zwischen uns verursachte.

Zwischen John und mir war doch alles okay...?

Den Kuss hatte ich verdrängt, vergessen. Ich hatte ihn nicht wahrhaben wollen. John und ich waren beste Freunde, wir mochten uns, wir verstanden uns perfekt, darum redete ich mir ein, dass der Kuss ein einfacher Freundschaftskuss gewesen war. John tat manchmal Dinge, die ich mir nicht erklären konnte – bestimmt zählte der Kuss dazu. John hatte vielleicht sich nur ausprobieren wollen, wissen wollen, wie es war, mich zu küssen. Immerhin hatte er doch auch eine Affäre mit Brian Epstein gehabt. Vielleicht interessierte sich John für Jungs – aber garantiert nicht für mich. Ich war doch nur Paul, sein Bandkollege und bester Freund.

Dennoch gab es manchmal Momente, in welchen ich etwas zu lange auf seinen Mund starrte. Es gab Momente, in denen ich mich dabei erwischte, wie ich überlegte, wie unser Kuss gewesen war.

Johns Brief hatte ich sofort gelesen, als er in meinem Briefkasten aufgetaucht war. Ich glaubte ihm nicht. Ich war mir sicher, John würde eine deprimierte Phase haben, nachdenken, und es nur freundschaftlich meinen.

„Komm rein!", sagte ich, aber John lief schon an mir vorbei und ging ins Wohnzimmer.

„Wie war Weihnachten?", fragte er, während er sich auf dem Sofa niederließ.

„Gut.", antwortete ich knapp und wunderte mich, worüber er reden wollte.

John schien mir auch überhaupt nicht richtig zuzuhören, während ich von meinen Festtagen erzählte. Ich sah es an seinen Augen. Sie huschten hin und her und schauten manchmal gen Decke, als würde er nachdenken. Dabei kaute er beständig auf seiner Unterlippe. Jemand, der ihn nicht kannte, würde nur sein höflich aufgesetztes Gesicht sehen, ich aber bemerkte jede einzelne Regung und Veränderung und wusste, wie John aussah, wenn er nur so tat, als ob er zuhören würde.

„Paulie, hast du meinen Brief gelesen?", fragte er plötzlich.

Verwundert starrte ich ihn an. „Klar."

Misstrauisch musterte er mich. Ein leichtes Grinsen huschte in seine Mundwinkel. „Ach so.", sagte er nach einer kurzen Weile.

Verdattert blickte ich ihn an und zuckte schließlich mit meinen Achseln. Ich tat gleichgültig, dabei raste mein Herz bis zum Hals.

„Ich koche uns mal einen Tee.", sagte ich, um das Thema zu wechseln und stand hastig auf. Ich hatte es eilig, in die Küche zu kommen. Ich wusste selbst nicht, wovor ich Angst hatte, aber ich stieß etwas von mir fort, wollte es nicht zulassen und das machte mir Panik.

In aller Ruhe kochte ich John und mir einen Tee und ließ mir dabei Zeit, unsere Tassen ins Wohnzimmer zu tragen.

„Ich hätte dir doch helfen können, Paulie.", meinte John grinsend und wuschelte mir durch die Haare. „Ich bin doch kein gewöhnlicher Gast." John zwinkerte mir vielsagend zu und ich verschluckte mich an meinem heißen Tee.

Ich bekam solch einen Hustenanfall, dass John mir beruhigend auf den Rücken klopfte und Tränen in meine Augenwinkel traten. Herrgott, wie peinlich das gerade war, aber Johns Blick hatte mich so durcheinandergebracht...

„Alles wieder gut?" Johns Grinsen wurde immer breiter und ich grübelte hastig darüber nach, welches Thema ich ansprechen könnte, aber alles, an das ich denken konnte, war Johns verschwörerischer Blick und seine koketten Anspielungen. Manchmal könnte ich Johns Humor verfluchen.

„Wie geht's George und Ringo?", fragte ich banal.

„Pff, denke mal gut.", meinte John und ich sah seinem Blick an, dass er den Themenwechsel albern fand. Ich versuchte den Blick zu übersehen.

Verlegen wandte ich mich ein wenig ab. „Willst du was essen?", fragte ich beschämt.

John stieß einen tiefen, genervten Seufzer aus und beugte sich über mich. „Paul, verdammt!", knurrte er. „Tu nicht so!" Dann, ohne jegliche Vorwarnung, küsste er mich erneut. Sein Mund schien zu brennen, während er seine Lippen ungeduldig auf meinen Mund presste. Mein Herz raste, stolperte, fiel hinab und schoss wieder in die Höhe, während sich mein Körper stocksteif anspannte und ich mich keinen einzigen Zentimeter rührte. Ich saß einfach nur da, vollkommen erstarrt und verwirrt. John küsste mich schon wieder und wie letztes Mal fühlte ich mich so, als könnte ich kein einziges Wort mehr hervorbringen. Seine Küsse löschten alles in mir, alle Gedanken, alle Gefühle.

Als er sich von mir löste, runzelte er ratlos seine Stirn, aber ich blickte ihn nur stumm an. Mein Mund stand ein wenig offen.

„Ich verstehe dich nicht, Paul.", sagte John mit einem Mal und ich erschrak vor seinem Tonfall. Er klang verletzt.

Aber bevor ich mich dazu aufraffen konnte, etwas zu erwidern, stand John auf und verließ mein Haus.


Ich hatte mit meiner Dummheit alles vermasselt. Hätte ich damals nicht so viel über seinen Brief nachgegrübelt, sondern es so hingenommen, wie es schwarz auf weiß geschrieben stand, wäre ich auch nicht so ein verdammter Idiot gewesen...



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Hier mal wieder ein Kapitel. Ich arbeite auch schon am nächsten, also sollte es diesmal nicht so lange dauern. :)

McLennon "Words Of Love"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt