3. Kapitel

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Von diesem Tag an hatte ich immer regelmäßiger Briefe erhalten. Manchmal steckte sie mir John in meine Umhängetasche, manchmal in meine Jacke und an manchen Tagen fand ich sie im Briefkasten. In diesen Briefen sprach John über seine Gedanken bezüglich seiner verstorbenen Mutter, über Mimi, aber auch über mich, wie gern er mich bei sich hätte und nur mit mir sprechen wollte. Ich ließ diese Briefe immer unbeantwortet, las sie nachts in meinem Bett und fragte mich, was mir John damit sagen wollte.

Die Briefe häuften sich zu dieser Zeit, lagen damals versteckt in meiner Schublade und dann fand ich den einen Brief von 1960, an welchen ich mich noch so gut erinnern konnte.

In jenem Brief hieß es einfach nur:

Paulie,

Komm am Sonntag in den Park.

-John

Zu dieser Zeit waren wir gerade die Silver Beatles gewesen. Ich erinnerte mich noch ganz genau, wie ich mir John den Brief nach einer Probe in meine Hand geschoben hatte, während er an mir vorbeigelaufen war.


„Bis dann, Leute!", rief John uns zu und verließ den Proberaum. Verdutzt sah ich ihm nach und achtete schon gar nicht mehr auf George, der irgendwas redete.

„Ich geh auch schon mal!", meinte ich schnell und verschwand, ohne auf eine Antwort zu warten. Zügig eilte ich zum Bus und fuhr nach Hause. Dort hastete ich hinauf in mein Zimmer und schloss ab. Mit schwerem Atem und kreiselnden Fragen in meinem Kopf faltete ich das Blatt auseinander und las. Es gab nicht viel zu lesen. Die Worte waren hastig und flüchtig niedergeschrieben. Ich konnte Johns Stimme förmlich in meinem Kopf hören, wie er die klare Ansage machte:

Komm am Sonntag zum Park.

Nur das. Ohne weitere Ausführungen. John wollte oft, dass es so lief, wie er es sich vorstellte. Natürlich würde ich hingehen. Ich war so nervös, dass ich nachts kaum schlafen konnte. Unruhig lag ich in meinem Bett, starrte an die Decke und dachte darüber nach, was John vorhaben könnte. Vielleicht spann ich auch nur rum und er wollte bloß spazieren, aber bisher wirkten seine Briefe immer so verschlüsselt und geheimnisvoll, dass ich der festen Überzeugung war, es würde mehr dahinterstecken.

Irgendwann war ich so aufgewühlt, dass ich es nicht mehr unter meiner Decke aushielt und das Fenster aufriss. Ohne zu zögern nahm ich meine Gitarre und zupfte die gleiche Melodie, die ich auch John gespielt hatte, als er mich wegen seiner Mutter zu sich bestellt hatte. Die Melodie war zärtlich, traurig und schien sich schwerfällig im Raum zu verlieren. Sie schien voller Gefühle zu sprechen und ließ mein Herz schwer werden und sinken, da ich mit dieser Melodie den Tod meiner Mutter verband.

Doch nun musste ich auch an John denken. An ihn und seine Mutter und wie viel uns mittlerweile verband. Wir beide hatten unsere Mütter verloren und die Musik half uns, darüber hinwegzukommen. Verluste waren schwer; Verluste von geliebten Menschen und das Wissen, sie nie wiederzusehen. Es schmerzt und kann einen in den Wahnsinn treiben.

Genau diese Gefühle, all die Schwere und Last und das Drama steckte ich in die Melodie hinein und verlor mich darin die gesamte Nacht.

Und dann war Sonntag.

Es war 12 Uhr, als ich mit hämmerndem Herzen das Haus verließ und die Tür hinter mir schloss. Fragen huschten durch meinen Kopf, ploppten auf und verblassten. Ich drängte sie beiseite und verfing mich in ihnen.

Was wollte John? Wie sehr mochte er mich? Wie dachte er über mich?

All die Fragen, die immer wieder in mir aufgetaucht waren, wenn ich einen seiner Briefe erhalten hatte. Er schrieb gefühlsvoll und traurig, auch irgendwie sehnsüchtig, trotzdem hatte ich immer das Gefühl, es würde mehr dahinterstecken. Er schien sich mir zu öffnen, doch jedes Mal glaubte ich, nicht alles zwischen den Zeilen zu verstehen, obwohl ich ihn mittlerweile so gut kannte.

Je näher ich dem Park kam, desto mehr schien mein Herz verrückt zu spielen. Es war doch nur John! Wieso führte ich mich dann so dämlich auf?

Aber es war nicht nur John. Seit dem Tod seiner Mutter schienen wir noch enger geworden zu sein. Uns schien ein unsichtbares Band zu verknüpfen; wir teilten das gleiche Schicksal und schienen durch die gleiche belastende Zeit zu treiben. Er schien mir näher als George oder all meine andere Freunde. Er schien mich zu kennen, mich zu verstehen, ohne, dass ich etwas sagte.

Doch nun hatte ich Fragen. Wirre Gedanken, seltsame Gefühle und viele, viele Fragen.

John war bereits da. Erwartungsvoll saß er auf einer Parkbank und blickte mir entgegen. Seine Gitarre lehnte in der Tasche an der Bank. Enttäuschung tauchte in mir auf. Ich hatte meine Gitarre nicht mitgenommen.

„Paulie.", sagte John nur.

„Hi John.", erwiderte ich und lächelte. Vertraulich setzte ich mich neben ihn. „Du hast deine Gitarre mit."

Wortlos nahm John sie in die Hand und begann zu spielen. Sacht zupfte er an den Saiten und mir lief ein Schauer über den Rücken. Es war DIE Melodie. Die Melodie meiner Mutter. Unsere Melodie. Johns und meine.

„Du hast sie dir gemerkt.", bemerkte ich verblüfft.

John stellte die Gitarre zur Seite und blickte mir tief in die Augen. „Jeden Ton.", flüsterte er und hielt meinen Blick fest.

Nervös spürte ich eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper verteilt und wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

„Paulie.", sagte John.

„Ja?" Mein Hals kratzte.

„Du hast die schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe.", sagte er.

Stumm starrte ich zurück. Meine Ohren schienen Feuer zu fangen. Alles in mir war wie leergefegt. John blickte mich an; er sah mich an mit diesem einen Blick, den ich nicht zu deuten verstand. Seine Augen schienen mich zu durchbohren und ich hatte das Gefühl, als würde ich seinen Blick auf mir spüren, wie als würde er mich anfassen.

Ich hatte das Gefühl, er würde nur mich so ansehen.

Doch dann ließ er mich wieder los und drehte sich nach vorn. „Mimi hat nach dir gefragt, ob du uns mal wieder besuchen willst."

„Aha.", machte ich und blinzelte verwirrt von dem plötzlichen Themenwechsel.

„Willst du?" John klang nicht sonderlich überzeugt.

„Doch, natürlich.", antwortete ich.

John und ich verbrachten noch einige Zeit auf der Parkbank, redeten über dies und das, wie wir es so oft taten, aber irgendwann wurde Abend und wir verabschiedeten uns.

Als ich daheim meine Jacke auszog, entdeckte ich einen Zettel in meiner Jackentasche. Sofort fiel mein Herz in die Tiefe und ich faltete ihn mit verschwitzten Fingern auseinander.


Mit Tränen verschleiertem Blick faltete ich den kleinen, zerknitterten Zettel auseinander, wohl wissend, was ich in ihm vorfinden würde:


Du bist für mich der schönste und klügste Beatle.


Eine Träne tropfte auf den Rand des Zettels und durchweichte die Ecke.

McLennon "Words Of Love"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt