2. Kapitel

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17. Juli 1958

Lieber Paul,

Ich hoffe, du bist der erste, der diesen Brief liest und er fällt keinem deiner Familienmitglieder in die Hände.

Wenn du es bist: Ich will nicht mehr leben. Ich kann kaum noch Atmen. Die Trauer um meine Mutter ist zu groß, als dass ich sie weiter aushalten kann. Es ist so grausam. Mimi versucht mich zu trösten, aber wie soll sie es schaffen, wenn sie selbst kaum schläft und isst.

Heute habe ich den dritten Stuhl zerstört. Ich weiß, der Unfall ist erst zwei Tage her, aber was kann ich anderes machen, als auf meinem Zimmer sein und meine Einrichtung anzustarren.

Ich kann nicht rausgehen.

Dein John


Vorsichtig strich ich über das mittlerweile vergilbte Papier und betrachtete die schön geschwungenen Lettern des Wortes John. Ich erinnerte mich noch gut an den Moment, als ich seinen Brief gelesen hatte. Mein Vater hatte ihn mir in die Hand gedrückt und ich spürte das Ziehen in meiner Brust und die aufsteigenden Erinnerungen an den Tod meiner Mutter. Ich wusste, wie es sich anfühlte, jemanden, der einem nahesteht, zu verlieren.


Hastig packe ich meinen Rucksack und verlasse unser Haus. Es weht kühler Wind und ich steige in den Bus in der Penny Lane, wie immer, wenn ich zu John fahre. Die Fahrt in dem Bus kann kaum schnell genug vergehen. Die Zeit scheint zu drängen und meine Brust ist immer noch zugeschnürt und eng, während ich damit kämpfe, meine Tränen zurückzuhalten. Vor nicht mal zwei Jahren ist meine Mutter Mary an Brustkrebs gestorben. Niemals werde ich ihr weißes, lebloses Gesicht vergessen, so völlig fremd. Nichts mehr war von der fröhlichen Frau zu erkennen, die immer Fahrrad gefahren ist und die ich so geliebt habe.

Endlich hält der Bus und ich steige aus. Beinahe rennend komme ich bei Johns Haus an und klopfe eilig an die Tür.

Mimi öffnet. „Paul?" Ihr Gesicht ist auch nicht mehr das gleiche. Trauer zerrt an einem; frisst einen von innen auf.

„Ich will zu John.", sage ich schweratmend und schiele zur Treppe.

„Na klar. Er ist auf seinem Zimmer.", sagt sie stumpf und lässt mich eintreten.

Höflich lächle ich sie an und eile die Treppe hinauf. Mein Herz klopft heftig, als ich vor seiner Zimmertür stehe. Was wird mich wohl erwarten? John ist doch so anders als ich. Aber er klang, als würde er mich brauchen, als würde er wollen, dass ich komme.

Behutsam klopfe ich gegen seine Zimmertür.

„Ich habe keinen Hunger, Mimi.", erklingt Johns Stimme monoton, als hätte er diesen Satz bereits einstudiert.

Vorsichtig öffne ich die Tür und schleiche mich hinein. Unsicher bleibe ich im Raum stehen und forme Sätze sorgsam in meinem Kopf, um John nicht zu verärgern. „Ich bin es. Paul.", sage ich fürsorglich. „Ich habe deinen Brief gelesen."

Ich sehe, wie sich John versteift, aber er bleibt mit dem Rücken zu mir gedreht auf seinem Bett sitzen.

„Ich habe meine Gitarre mitgebracht.", sage ich und nehme sie von meinem Rücken. „In meinem

Kopf sind schon wieder so viele Melodien, vielleicht kann ich dir was vorspielen und du hörst mir dabei zu. Du musst nicht mal sagen, wie es dir gefällt." Achtsam nähere ich mich seinem Bett, die Gitarre in meinem Arm und setze mich auf die andere Bettkante zu ihm gedreht.

John sagt immer noch nichts.

Also zupfe ich sachte an einigen Saiten und summe leise Töne dazu. So sitze ich einige Zeit lang da, die Gitarre auf meinem Schoß, leise Lieder spielend, John auf der anderen Seite, den Kopf in seine Hände gestützt lauscht er mir stumm. Mir tut es ganz gut, wie ich an den Saiten zupfe und dabei auch mein eigenes Herz zur Ruhe bringe. So schwirrt die Musik zärtlich durch den Raum und erfüllt mich mit Ruhe und Harmonie.

Bis sich John plötzlich zur mir umdreht. Kurzzeitig erschrecke ich und höre ruckartig auf zu spielen. Johns Gesicht ist schneeweiß, unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab und sein Blick ist düster und starr.

Wortlos erwidere ich seinen Blick und versuche so viel Wärme und Beistand hineinzulegen, wie ich ihm mit einem Blick geben kann. Ich will nichts sagen, alles, was mir in dem Kopf kommt, hört sich nach leeren Worten, nach nichts aussagendem Mitleid an.

Langsam rückt er näher an mich heran und ich höre meinen Herzschlag in meinen Ohren hämmern. „Du bist der gutmütigste Mensch, den ich kenne, Paulie.", wispert er mit tiefer Stimme. „Manchmal könnte ich dich küssen."

Mit verkloßtem Hals bleibe ich einfach nur sitzen und warte, was passiert. Ich fühle mich wie leergefegt, vollkommen ratlos, was ich sagen oder tun soll. Habe ich ihm geholfen? Wie geht es ihm? Aber vor allem wirbeln solch durchmischten Gefühle durch meinem Bauch, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Überraschung, Glück, Verwirrung, Ratlosigkeit, Schreck. Will mich John küssen? Oder hat er es einfach nur so aus Quatsch gesagt.

John aber dreht sich einfach nur wieder um und starrt aus dem Fenster. Er hat dem Tag kein Wort mehr zu mir gesagt.


Ich war einige Zeit noch sitzen geblieben, bis ich mich schließlich von John verabschiedet hatte und gegangen war. Johns Satz war die ganze Nacht mir nicht aus dem Kopf gegangen. Immer wieder stellte ich mir vor, wie es gewesen wäre, wenn er mich geküsst hätte. Dabei wusste ich nicht, ob ich es wollte oder nicht.

McLennon "Words Of Love"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt