1. Kapitel

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Ein altes, verstaubtes, gebundenes Buch. Dick und mit einem Lederband, welches mehrfach drumgewickelt ist, zusammengehalten. Staub kitzelt meine Nase, während ich einmal puste und sanft über das Buch streiche.

Mein Körper ist eine leblose Hülle. Seit drei Wochen sind jegliche Gefühle entwichen. Ich lebe, jedoch nur deshalb, weil mein Herz schlägt und meine Organe funktionieren und arbeiten. Allerdings fühle ich nichts, weder Freude, noch Trauer, Wut, Schmerz, Glück, Angst... Ich existiere, ich esse, ich schlafe, ich höre Musik, ich denke. All das tue ich emotionslos. Die meiste Zeit liege ich im Bett und hoffe, dass mich der Schlaf übermannt und ich träume. Träume, um ein anderes Leben zu leben.

In der ersten Woche nach seinem Tod hat mich der Schmerz, die Verzweiflung, der Kummer nur so überrollt. Ich habe Tage damit verbracht, im Bett zu liegen und zu weinen. Ich habe meinen Kopf gegen die Wand geschlagen, um irgendwie mit meinen überwältigenden Gefühlen fertig zu werden, aber nichts hat geholfen. Alles schien zu schwach zu sein, um meine Emotionen widerzuspiegeln. Die Sehnsucht, mich abzureagieren, war zu riesig, aber es gab keine Möglichkeit.

In der zweiten Woche musste ich feststellen, dass es irgendwann keine Tränen zum Vergießen mehr gibt. Ich fühlte mich leblos, reglos ohne diese Tränen, ohne meine einzige Form, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Und so bin ich zu dem geworden, was ich jetzt bin.

Ein lebendiger Mensch, mit toten Gefühlen.

Plötzlich entdeckte ich dieses Buch. Schwer wiegt es in meinen Händen. Langsam schlage ich es auf und sogleich fallen einige Zettel heraus. Vorsichtig hebe ich einen von ihnen auf und beginne zu lesen.


August 1957

An Paul,

ohne dich ist es so langweilig in Liverpool. Ich freue mich schon, wenn du wieder heimkehrst, wenn du wieder aus deinem Urlaub mit deinem Vater kommst.

Wenn du wieder da bist, zeige ich dir eine coole Melodie, die ich auf meiner Gitarre für dich einstudiert habe. Nur für dich. :) Ich wette, sie gefällt dir. Nach dem Sommer werde ich auf das Liverpooler College of Art wechseln. Na ja, wirklich Lust habe ich nicht, du weißt ja. Für mich ist Musik nur noch das einzig Wahre was zählt. Was soll ich dann auf diesem College?

Bis bald!

-John


Ein Seufzer entweicht meiner Brust und ich spüre ein Brennen in meinen Augen und ein unwohles Gefühl in meinem Bauch.

Briefe. Briefe, die John mir geschrieben hat. Dieser erste Brief erinnert mich daran zurück, als ich aus dem Urlaub heimkehrte.


Hastig verabschiedete ich mich von meinem Vater und eilte zu dem Bus, welcher mich zu Johns Zuhause brachte. Wie lange hatte ich ihn nun schon nicht mehr gesehen... Als ich aus dem Bus wieder ausstieg und mich seinem Haus näherte, sah ich, wie eine Person mir entgegenkam.

John rannte auf mich zu, ich auf ihn, und wir fielen uns in die Arme.

"Na Paulie!", murmelte John in meine Haare. Abrupt löste er sich aus unserer Umklammerung und zerrte mich an meinem Ärmel mit in sein Haus, hastig und grob.

"Hallo Mimi!", rief ich seiner Tante noch im Vorbeigehen höflich zu, aber John zog mich in sein Zimmer, schubste mich auf sein Bett und nahm seine Gitarre.

"Ah, deine neue Melodie.", erinnerte ich mich an seinen Brief und lauschte aufgeregt dem Song, den sich John während meiner Zeit im Urlaub ausgedacht hatte. Sie klang tatsächlich verdammt gut, was aber nicht überraschend für mich war in dem Monat, den ich ihn bereits kannte.

Als er endete, blickte er mich abwartend an. "Und?"

"Echt cool.", lobte ich ehrlich.

Sein Blick wurde frech. "Du bist echt cool!", spottete er, stürzte sich auf mich und kitzelte mich durch, sodass ich kaum noch Luft bekam. Grob wuschelte er mir durch die Haare und kniff mich in meine Wange.

"Hey!", protestierte ich, aber John ließ mich nicht los.


Eine Träne löste sich aus meinem linken Auge...

McLennon "Words Of Love"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt