„Es ist bereits spät." Mit nur vier Wörtern brachte Evelyn die Blase zum Platzen, hinter der wir beide uns in den letzten zwei Stunden versteckt hatten. In dieser Blase gab es keine Melia und Ms Kane. Es gab nur zwei Frauen, die sich miteinander unterhielten und die Nähe der jeweils anderen genossen.
Vor Monaten graute es mir davor, nur eine halbe Stunde mit dieser wundervollen Frau zu sprechen. Jetzt dagegen könnte ich mich Stunden mit ihr unterhalten oder einfach nur ihrer samtweichen Stimme zuhören und hätte dann wahrscheinlich noch immer das Gefühl, es sei nicht genug.
Wie die Dinge sich doch verändern konnten!
„Das ist mir egal", sagte ich ein wenig trotzig und sah auf unsere ineinander verschränkten Hände hinunter. Augenblicklich wurde mir warm ums Herz. Vor noch wenigen Sekunden hatte Evelyn mir mit ihrer freien Hand unsichtbare Muster auf meinen Handrücken gemalt. Nun jedoch sah sie mich mit ernster Miene an, als ich zu ihr aufsah.
„Mir aber nicht, Melia." Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, was in mir den wiederholten Wunsch auslöste, sie zu küssen. Es reizte mich ungemein es einfach zu tun und Evelyns Reaktion zu sehen. Ich wusste aber gleichzeitig, dass das nicht der Moment für einen Kuss war. Der war vorbei. Sehr zu meinem Leidwesen.
„Obwohl ich es nicht sollte, genieße ich deine Nähe sehr. Ich will dich berühren und dich küssen, obwohl allein der Gedanke daran falsch sein sollte." Sie strich mir liebevoll eine Strähne meines braunen Haars aus dem Gesicht. Ein angenehmes Prickeln machte sich dort bemerkbar, wo ihre Haut meine berührte.
Unsere Blicke trafen sich und ich erkannte, wie zwiegespalten Evelyn war. Welch Kampf in ihrem Inneren tobte. Sie hatte so viel mehr zu verlieren, als ich, wurde mir in diesem Moment nur zu deutlich bewusst.
Zwar war ich bereits 18, aber ich war dennoch ihre Schülerin und sie meine Lehrerin und zudem älter als ich. All das war in den letzten Stunden in weite Ferne gerückt und kam nun mit einem Schlag zurück.
„Was bedeutet das jetzt?", fragte ich ein wenig verunsichert. Mir gefiel ganz und gar nicht in welche Richtung dieses Gespräch führte.
„Das bedeutet, dass heute der letzte Tag ist, an dem ich mir erlaube, die Grenzen zwischen uns zu überschreiten. Das gestern und auch heute ... es wird keine Wiederholung geben. Verstehst du das, Melia?" Ihre Stimme war ernst und doch weich. Evelyn wollte mich nicht verletzten, das wusste ich, und doch tat sie es mit ihren Worten.
„Ich will es nicht verstehen", gab ich schärfer als beabsichtigt zurück. Das tat mir sofort leid. Evelyn war immerhin nicht diejenige, auf die ich wütend war. Aber ich war wütend. Wütend, weil sich endlich alles gefügt hatte und es mir gleich wieder genommen wurde. Warum durfte ich dieses Glückgefühl, das Evelyn mir schenkte, nicht länger fühlen? Das war durch und durch ungerecht.
Aber ich verstand sie. Das tat ich tatsächlich. Aber ich wollte es nicht verstehen. Wollte nur die Augen vor dem verschließen, das auf mich wartete, sobald ich Evelyns vier Wände verließ.
„Melia ...", hauchzart kam mein Name über die Lippen der Frau neben mir, ehe sie tief aufseufzte.
„Ich verstehe es, okay! Das tue ich. Immerhin bin ich nicht dumm." Aufgebracht setzte ich mich auf, sodass unsere Hände sich voneinander lösten.
Auch Evelyn setzte ich auf und sah mich eindringlich an.
„Das habe ich nie behauptet", sagte sie ruhig und beschwichtigend. Dann nahm sie wieder meine Hände in ihre, ganz vorsichtig, als befürchte sie, ich würde ihr die Berührung verweigern. Das tat ich natürlich nicht. Zu sehr genoss ich das warme Kribbeln, das sie damit herauf beschwor.„Dann verstehst du bestimmt auch, dass ich eine gewisse Verantwortung trage, die mich zwingt, die Notbremse zu ziehen, bevor wir mit unserer jetzigen Situation gegen die Wand fahren", begann sie zu sprechen an und ich nickte, ehe sie fortfuhr.
„Das was geschehen ist, kann ich nicht ungeschehen machen, aber ich will das auch gar nicht. Ich will, dass wir weiterhin miteinander reden können, ohne fürchten zu müssen, etwas falsches zu sagen. Dass du auch weiterhin jederzeit auf mich zukommen kannst, egal aus welchem Grund, aber ich werde dich nicht ein weiteres Mal in meine Wohnung hineinlassen. Wir haben immerhin beide gesehen wo das hingeführt hat." Sie schenkte mir ein Lächeln, das beinahe amüsiert wirkte.
„Ich mag es sehr wo es uns hin geführt hat", gab ich offen und mit einem kessen Lächeln zu.
„Ich auch", stimmte sie mir zu, was mein Herz ein wenig höher schlagen ließ. „Was schlussendlich der Grund ist, weshalb ich diese Grenze ziehen muss."
„Du scheinst wohl vergessen zu haben, dass ich gerne Grenzen breche, Evelyn." Mein Lächeln wurde eine Spur breiter, ja, fast schon ein wenig provokant. Ich wollte nicht einfach so nachgeben. Geschweige denn aufgeben.
Evelyns Mundwinkel zuckten verschwörerisch und in ihren hellen Augen erschien ein Funkeln, das ich bereits kannte.
„Du kannst es gerne versuchen, aber ich hoffe, du bist vernünftig genug, es nicht zu tun." Der warnende Unterton in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Ebenso wenig wie ihre folgenden Worte, die meinen Ärger genauso schnell verschwinden ließen wie er gekommen war.„Da du allerdings bereits eh in meiner Wohnung bist, spricht nichts dagegen, die heutige Ausnahme zumindest ein bisschen zu verlängern." Sie lehnte ihre Stirn an meine und ihr warmer Atem traf auf meine Haut. „Ich weiß es eigentlich besser, aber ich will dich noch nicht gehen lassen", raunte sie mir leise zu. Dann senkten sich ihre Lippen auf die meinen.
Wenn das unser letzter gemeinsamer Abend sein sollte, dann wollte ich ihn wenigstens bis zur letzten Sekunde auskosten. Und das würde ich. Ganz ohne Zweifel.
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Hey, ihr Lieben!
Schneller als erwartet habe ich wieder in Melias und Evelyns Geschichte versinken können und ein neues Kapitel geschrieben. Ich hatte verschiedene Szenarien im Kopf, wie es mit den Beiden nach dem letzten Kapitel weitergehen könnte. Dieses hier hat sich am richtigsten angefühlt. Ich hoffe natürlich, es gefällt euch. Die Geschichte um die Beiden ist natürlich noch nicht zu Ende. ;)Man liest sich, Aura
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Scherbenherz [TxS / GxG]
RomanceTrotz ihres unschuldig klingenden Namens ist Melia Callahan alles andere als unschuldig. Sie ist hübsch und sie ist selbstbewusst und dummerweise denkt sie oft nicht nach, bevor sie handelt. Schlussendlich ist Melia dazu gewzungen, mit der Vertraue...