S E C H S Z E H N

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Am Dienstag sah ich Ms Kane zum ersten Mal nach vier Wochen wieder im Schulflur. Sie unterhielt sich mit einer Kollegin. Und wie immer war sie freundlich und ruhig, aber es machte den Eindruck, als hätte sie sich allein aus Höflichkeit auf dieses Gespräch eingelassen.

Als ihr Blick für einen kurzen Moment nicht mehr ihrem Gegenüber galt, trafen sich unsere Blicke. Ms Kanes Lippen formten sich augenblicklich zu einem warmen Lächeln und meine taten es ihren gleich.

Sie nach der langen Zeit wieder zu sehen, löste ein warmes Kirbbeln in meinem Bauch aus. Vor drei Monaten hätte ich dieses eigenartige Gefühl noch abgestritten. Aber die letzten Wochen hatten mir verdeutlicht, dass ich das nicht konnte.

Ich hätte eigentlich verwirrt darüber sein sollen. Verwirrt darüber, dass eine Frau die gleichen Gefühle in mir auslöste, wie Jasper vor zwei Jahren. Aber nein; das einzig Verwirrende war die Tatsache, dass es ausgerechnet eine meiner Lehrerinnen war, die meine Gefühle und Gedanken so durcheinander brachte.

Am liebsten hätte ich sofort mit ihr gesprochen - auch das hätte ich mir vor Monaten nicht vorstellen können -, aber es wäre besser bis später zu warten.

Den gesamten Vormittag konnte ich mich kaum auf das konzetrieren, was eigentlich hätte in meinen Kopf sollen. Welch Glück also, dass bereits alle Klausuren hinter uns lagen. Das bedeute einen Stressfaktor weniger, um den ich mir den Kopf zerbrechen musste.

Im Musikunterricht saß ich schließlich wie ausgewechselt auf meinem neuen Platz. Neben Jasper zu sitzen war nämlich eine Zumutung, die ich mit allen Mitteln versuchte zu vermeiden. Meine gesamte Aufmerksamkeit lag auf Ms Kane. Ihre Begeisterung für das, was sie uns lehren wollte, war unverändert, aber etwas war doch anders.

Nach Unterrichtsende ließ ich mir mit dem Einpacken meiner Sachen Zeit, sodass ich die letzte Schülerin im Raum blieb. Auch Ms Kane schien es nicht besonders eilig zu haben. Sie stand mit ihrem Rücken zu mir - das blonde Haar fiel ihr dabei über die Schultern - und wischte die Tafel sauber.

„Was kann ich für Sie tun, Ms Callahan?" Als hätte sie meine Anwesenheit hinter sich gespürt, drehte sie sich mit einem Lächeln zu mir herum. Der Schwamm in ihrem Händen wanderte zeitgleich zu seinem Platz zurück.

„Hätten Sie Zeit für ein Gespräch?"

„Natürlich." Sie lief um das Lehrerpult herum und lehnte sich schließlich mit dem Po daran an, sodass sie mir nun gegenüber stand. „Ich habe mich übrigens sehr über ihre Nachricht gefreut. Und es tut mir leid, dass ich nicht darauf reagiert habe."

„Das macht nichts", winkte ich ab. „Ich bin ehrlich gesagt froh, dass Sie wieder da sind." Mir war nicht im Geringsten klar wo diese Ehrlichkeit herkam. Erstaunlicherweise fühlte es sich zudem gar nicht mal so schlecht an.

„Ich auch", meinte sie und kam auf den eigentlichen Grund des Gesprächs zurück. „Worüber wollten Sie mit mir sprechen, Ms Callahan?" Es wäre mir lieber gewesen, hätte sie mich wieder Melia genannt, aber das hier war die Schule und nicht ihre Wohnung.

„Sie haben bei mir Zuhause angerufen. Ich will wissen warum?", gestand ich und musste innerlich den Kopf schütteln. Eigentlich hatte ich etwas ganz anderes sagen wollen.

Ms Kane schien nicht besonders verwundert über diese Frage. Vielleicht hatte sie sogar gewusst, dass sie irgendwann kommen würde.

„Ich war für dich verantwortlich in dieser Nacht, Melia. Und ich wusste nicht, ob deine Eltern wissen wo du dich befindest. Also rief ich bei dir Zuhause an, damit sie sich nicht unnötig Sorgen um dich machen müssen", erklärte sie mir mit ruhiger, samtweicher Stimme. „Es tut mir leid, falls du deshalb Ärger bekommen hast."

„Hab ich nicht", wollte ich unbedingt klarstellen. Im Endeffekt hatte Ms Kanes Anruf den Ärger sogar höchstwahrscheinlich verhindert.
„Können wir übrigens beim Du bleiben?"

Erst, als ich es erwähnte, schien Ms Kane aufgefallen zu sein, dass sie wieder ins Du übergegangen war.
„Ich verzichte gerne auf das Sie, wenn du das möchtes, Melia, aber ich muss dennoch darauf bestehen, dass du mich weiterhin mit Ms Kane ansprichst."

„Warum?" So einfach wollte ich das nicht auf mir sitzen lassen.

„Wir sind hier in der Schule und ich bin noch immer deine Lehrerin, Melia", gab sie mir mit einem ernsten‌ Ausdruck in den blauen Augen zu verstehen. Das war ein durchaus logisches Argument, das ich wohl oder übel hinnehmen musste. Wobei ...

„Und wenn ich es trotzdem nicht tue, also Sie mit Ms Kane anzusprechen?", kam es mir provokanter als beabsichtigt über die Lippen.

„Dann wäre ich leider dazu gezwungen, dieses Gespräch hier und jetzt zu beenden." Es war ihr tatsächlich ernst. Und ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie ihren Worten auch Taten folgen lassen würde.

„Der Punkt geht an Sie", gab ich mich mit einem kleinen Grinsen geschlagen.
„Eigentlich bin ich wegen etwas anderem auf Sie zugekommen."

Ms Kanes Augenbrauen hoben sich kaum merklich, während ihr Blick abwartend auf mir ruhen blieb.

„Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob es Ihnen wieder besser geht?", gestand ich und musterte mein Gegenüber aufmerksam. Sie wirkte weder müde noch befanden sich dunkle‌ Ringe unter ihren hellen Augen. Ein gutes Zeichen. Dennoch nagte die Neugier an mir, die unbedingt erfahren wollte, weshalb Ms Kane einen ganzen Monat gefehlt hatte.

„Besser, ja", gab sie ein wenig Gedankenverloren von sich, als würde sie gerade in irgendwelchen mir unbekannten Erinnerungen schwelgen.

„Es ist sehr freundlich von dir, dass du gefragt hast, Melia, aber es gibt keinen Grund weshalb du dir darüber Gedanken machen müsstest."

Am liebsten hätte ich ihr widersprochen. Ihr gesagt, dass es sehr wohl einen Grund gab, aber dann hätte sie vielleicht Abstand genommen.

„Wie geht es denn dir, Melia?", fragte sie mich anschließend zurück. Ihr Blick wurde bei ihren folgenden Worten weicher, mitfühlend. „Ich habe mitbekommen, dass du und Mr Jordan sich getrennt haben."

„Vor etwa einem Monat", sagte ich und musste unwillkürlich mein Gesicht verziehen, als mir das Bild von Jasper und Blair in den Sinn kam. Erst letzte Woche hatten die beiden sich vor aller Augen im Schulflur geküsst. Damit war es offiziell vorbei mit uns.

„Es ist nicht einfach, aber ich werde es überleben." Immerhin hatte ich schon andere, viel schlimmere Dinge überlebt. „Außerdem war es längst überfällig, dass wir uns trennen." Zu gerne hätte ich ihr gesagt, dass sie ein gewisser Teilgrund dafür war, nur, um ihre Reaktion zu sehen, aber das konnte ich unmöglich bringen.

Ms Kane riskierte einen verstohlenen Blick auf die Armbaduhr an ihrem Handgelenk, dann sah sie mit einem warmen und doch irgendwie eindringlichen Blick zu mir.

„Es ist mir wichtig, dass du weißt, dass du jederzeit auf mich zukommen kannst, wenn du jemanden zum reden brauchst, Melia." Dann wurde ihr Lächeln entschuldigend. „Ich habe in nicht einmal einer halben Stunde einen sehr wichtigen Termin, weshalb ich unser Gespräch hier leider beenden muss."

Ich gab ihr zu verstehen, dass das in Ordnung war.
„Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben."

„Für dich nehme ich mir gerne Zeit, Melia." Sie schenkte mir ein atemberaubend schönes Lächeln.

Mein Herz machte einen kleinen Aussetzter vor Freude. Wusste diese Frau überhaupt welche Wirkung sie mittlerweile auf mich hatte? Insgeheim hoffte ich, sie tat es. Das würde alles viel einfacher machen. Oder schwieriger. Aber allein die Zeit würde das zeigen.


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Und schon folgt das nächste Kapitel, das euch hoffentlich gefällt :) Die Antwort auf Ms Kanes Fehlen gab es zwar nicht, aber das kommt auf jeden Fall noch. Vielleicht sogar im nächsten Kapitel. ;) 

LG, Aura

Scherbenherz [TxS / GxG]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt