S I E B Z E H N

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Am Freitag stand ich wieder vor Ms Kanes Büro, die Hand bereits zur Faust geballt, um anzuklopfen. Ein kleiner Teil von mir zögerte jedoch. Was tat ich hier eigentlich?‌ Ich war niemand, der nach der Gesellschaft anderer lechzte. Das genaue Gegenteil war sogar der Fall. Ms Kane jedoch ließ mich all meine Prinzipien vergessen. So schob ich auch all meine Bedenken zur Seite und klopfte an.

Als keine Reaktion aus dem Inneren kam, drückte ich die Türklinke herunter und trat herein. Das erste, was ich wahrnahm, war das herzzerreißende Schluchzen. In meinem Inneren zog sich alles vor‌ Schreck zusammen. Meine Augen suchten sofort nach Ms Kane. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch an die Wand gelehnt, die Beine angewinkelt an ihren Körper gedrückt und das Gesicht in den Händen vergraben.

Ein paar Sekunden stand ich einfach nur da, war wie erstarrt, weil ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Doch dann übernahm Gott sei Dank die Vernunft und ich schaffte es, meinen Beinen den Befehl nahe zu bringen, sich endlich wieder in Bewegung zu setzten.

Vorsichtig setzte ich mich neben Ms Kane auf den Boden, darauf bedacht, nicht über die am Boden verstreuten Dinge zu stolpern. Ms Kane selbst war so sehr in ihren Gefühlen gefangen, dass sie meine Anwesenheit nicht einmal bemerkte. Besorgt musste ich feststellen, dass ihr gesamter Körper zitterte. Es war, als stände er unter ständigem Strom.

Über meine Lippen kam kein Wort - ich hätte eh nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen -, stattdessen legte ich behutsam einen Arm um ihren bebenden Körper und wartete.

Irgendwann schien sie zu realisieren, dass sie nicht mehr alleine war. Das Schluchzen ebbte ab und das Zittern ihres Körpers wurde weniger, bis es ganz verschwand.

Als Ms Kane langsam den Kopf hob, glänzten Tränen in ihren geröteten Augen. Sie musste lange geweint haben. Und obwohl ich nicht den Grund dafür kannte, wollte ich sie einfach weiterhin im Arm halten und ihr meine tröstende Wärme schenken. Sie so zu sehen, so zerbrechlich, machte mich unfassbar traurig und vor allem hilflos, weil ich nicht wusste, wie ich ihr am besten helfen könnte.

Ms Kane war für jeden da, der ein offenes Ohr brauchte. Sie war die Ruhe in Person, aber erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass auch sie wie jeder andere Mensch ihre schwachen, verletzlichen Momente hatte.

„Geh bitte, Melia", kam es mit erstickter Stimme von ihr. Sie sah mich flehend an, doch ich hatte keinesfalls vor, sie hier alleine zu lassen. Insbesondere, als mir bewusst wurde, dass sie getrunken haben musste.

„Nein. Ich lass Sie nicht alleine!", sagte ich entschieden und dann entwas sanfter: „Haben Sie sich verletzt?"

Ein Kopfschütteln war die Antwort. Erleichtert atmete ich auf, ehe mir ein Gedanke kam. „Kommen Sie, stehen Sie auf, ich fahre Sie nach Hause."

Zu meiner Verwunderung ließ sie sich aufhelfen und reichte mir wortlos die Schlüssel für ihr Auto. Da sie noch etwas wackelig auf den Beinen war, hielt ich sie noch immer an der Taille fest. Sie war mir wieder so nahe und wäre das eine andere Situation, ich hätte es sicher durchaus genießen können.

So aber ließ ich sie wieder los, als ich mir sicher war, dass sie ihr Gleichgewicht halten würde können.

„Können wir?", fragte ich und sie nickte. Während ich mich versicherte, dass der Flur leer war, zog sich Ms Kane eine Sonnenbrille an, die ihre verräterischen Augen verdeckte.

Während ich neben ihr gesessen hatte, hatte ich vollkommen mein Zeitgefühl verloren. Vielleicht waren es nur Minuten gewesen, in denen ich einfach nur da gewesen war. Vielleicht aber auch Stunden.

Egal, was es war, wichtiger war, dass wir ungesehen durch die Schule kamen. Nicht sehr verwunderlich eigentlich. Es war immerhin Freitag und sowohl Schüler als auch Lehrer waren bereits ins ersehnte Wochenende gestartet.

Scherbenherz [TxS / GxG]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt