S E C H S

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„Sie sind mir eine Erkärung schuldig", fiel ich geradewegs mit der Tür ins Haus, nachdem der letzte Schüler am Dienstag Nachmittag den Musiksaal verlassen hatte. Ms Kane sah von ihren Unterlagen auf, die sie soeben noch sorgsam in ihre Tasche gepackt hatte.

Unbewusst suchte ich nach irgendeinem Hinweis in ihrem Gesicht, der mir verriet, was ihr durch den Kopf gehen musste. Ms Kane jedoch sah mich lediglich mit einem freundlichen Lächeln um die Lippen an, das ein wenig breiter wurde, als sie die folgenden Worte fallen ließ.
„Das ist das erste Mal, dass Sie bewusst von sich aus das Gespräch mit mir suchen."

Mit ihren Worten ließ sie mich für einen kurzen Moment vergessen, was ich eigentlich von ihr wollte. Und gerade das war der Knackpunkt. Dieses Mal war ich auf Ms Kane zugegangen, nicht andersherum. Das wurde mir erst jetzt so richtig bewusst.

„Nehmen Sie Platz, Ms Callahan. Dann können Sie mir in aller Ruhe erklären was für eine Erklärung ich Ihrer Ansicht nach Ihnen schuldig bin." Sie umrundete den Tisch und setzte sich wie bereits das letzte Mal auf den Tisch, die Beine locker in der Luft baumeld. Ich tat es ihr gleich, in dem ich auf dem Tisch gegenüber Platz nahm. Es trennten uns vielleicht eineinhalb Meter. Eine angemessene Distanz, wie ich fand.

Blaue, fragende Augen ruhten auf mir und ich wusste, dieses Mal würde Ms Kane warten, bis ich zu reden anfing. Und da ich unbedingt eine Antwort haben wollte, würde ich das tun.

„Ich habe gehört, dass Cameron ebenfalls bei Ihnen war. Allerdings nur einmal. Ich dagegen musste schon vier Mal bei ihnen antanzen. Erklären Sie mir also bitte warum dieser Idiot nur -"

Ms Kane hob die Hand und brachte mich damit zum Schweigen. Seltsam, dass diese kleine Geste eine solch große Wirkung haben konnte.

„Mr Hayes und mein Gespräch ist so vertraulich wie das von Ihnen und mir. Ich kann Ihnen daher nichts Genaueres sagen, Ms Callahan. Der Grund aber weshalb Mr Hayes nur ein Mal bei mir war, ist der, das ich kein weiteres Gespräch für nötig halte." Ihre Stimme war ruhig und doch eindringlich.

„Und bei mir schon." Keine Frage, mit der ich sie unterbrach, sondern eine Feststellung. Wahrscheinlich hatte Cameron gesungen wie ein Vogel, während ich von Tag eins aus stur gegen ein Gespräch über die Sache mit dem Foto war.

„Das tue ich", bestätigte sie mir ernst. „Und ich gebe Ihnen den selben Rat, den ich auch bereits Mr Hayes gegeben habe. Sprechen Sie sich aus. Am besten an einem Ort, an dem sie beide sich wohl fühlen und in aller Ruhe miteinander reden können."

„Ich glaube ja kaum, das Cameron freiwillig mit mir reden würde", stieß ich spottend aus.

„Würden Sie es denn?"

Würde ich? Freiwillig mit diesem Idioten reden? Eher nicht, doch dann dachte ich daran, dass Ms Kane vielleicht nach einem Gespräch mit Cameron von mir ablassen würde. Das dagegen war durchaus eine Überlegung wert.

„Wären Sie dann bei diesem Gespräch dabei?", wollte ich von ihr wissen. Ich fürchtete nämlich, dass ein Gespräch nur mit Cameron und mir schnell ausarten könnte.

„Falls Sie es möchten, bin ich dabei." Sie schenkte mir ein warmes Lächeln und während ich so in das Gesicht meines Gegenübers sah, wurde mir bewusst, dass ich mich nicht unwohl bei diesem Gespräch fühlte. Keine Frage, der Inhalt missfiel mir, aber hier und jetzt einfach zu sitzen und mit Ms Kane zu sprechen fühlte sich das erste Mal nicht unangenehm an.

Vielleicht gewöhnte ich mich langsam daran. Vielleicht lag es aber auch an der Tatsache, dass ich sie in einer Situation gesehen hatte, die so gar nicht ihrem gewöhnlichen Auftreten glich. Unweigerlich musste ich an letzten Freitag denken, als ich die junge Vertrauenslehrerin schlafend in ihrem Büro vorgefunden hatte.

„Geht es Ihnen eigentlich wieder gut?", platze es aus mir heraus, ohne einen Gedanken daran verschwendet zu haben. Es verwunderte mich selbst, aber ich war tatsächlich ehrlich interessiert an ihrer Antwort.

Über Ms Kanes Gesicht huschte für einen kurzen Moment ein überraschter Ausdruck - immerhin hatte ich urplötzlich das Thema gewechselt -, doch dann lächelte sie mich an.

„Vielen Dank der Nachfrage, Ms Callahan. Es geht mir schon deutlich besser. Aber um wieder zum vorherigen Thema zurückzukehren: Was halten Sie von diesen Freitag, was eine Aussprache mit Mr Hayes anbelangt. Musiksaal, nach Unterrichtsende?"

„Ich habe doch noch gar nicht zugestimmt", entgegnete ich.

„Ihrer Reaktion nach auf die Frage, ob Sie mit Mr Hayes sprechen würden, hat mich annehmen lassen, sie wären dabei, sei es auch nur, um mich loszuwerden."

Innerlich versteifte ich mich. Es war verrückt, wie aufmerksam diese Frau war. Und vor allem, wie es ihr gelang, so zielgenau ins Schwarze zu treffen, obwohl ich kein Wort gesagte hatte.

„Freitag ist in Ordnung", erwiderte ich, in Gedanken noch bei ihren Worten. „Kann ich jetzt gehen?"

„Ich halte Sie nicht auf." Ein kleines, schiefes Schmunzeln legte sich auf ihre Lippen und gerade, als ich meine Tasche geschultert hatte und bereit zum Gehen war, sagte sie, als wäre nichts dabei: „Ach ja, Ms Callahan, falls Sie mich noch einmal schlafend in meinem Büro vorfinden sollten, scheuen Sie sich nicht davor, mich zu wecken oder mir wenigstens einen Zettel zu hinterlassen."

Ich sah sie an. Zehn Sekunden. Zwanzig Sekunden. Vor meinem Inneren Auge sah ich ihre schlafende Gestalt. Und die kleine Narbe unterhalb ihres Schlüsselbeins. Ich wusste nicht, weshalb mich das so beschäftigte, aber das tat es.

Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte - lächelte ich zurück. Es war verhaltender als ihres, aber doch ein Lächeln.

Dann drehte ich mich um und ging.



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Nach langer Zeit gibt es ein neues Kapitel von Melia und Ms Kane. Ich hoffe, es gefällt euch :) Es geht zwar langsam voran, aber ich hoffe man merkt trotzdem, dass sich das Verhältnis von den beiden ein wenig verändert hat. ;)

LG, Aura

Scherbenherz [TxS / GxG]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt