D R E I

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Tagelang hatte ich mir die Mühe gegeben, meinem Freund aus dem Weg zu gehen. Zwar war das in der Schule nicht immer möglich, da wir einige Kurse zusammen hatten, aber irgendwie hatte ich es dennoch geschafft, kein einziges Wort mit ihm zu wechseln. Als ich jedoch am Dienstag den Klassenraum verließ und eine warme, vertraute Hand meine in seine nahm, wusste ich, dass ich eine direkte Konfrontation nicht länger hinauszögern konnte.

„Lass uns reden, Mel. Bitte." Jasper drückte meine Hand leicht, als hätte er Angst, ich würde sie ihm entreisen. Dabei hatte ich das keineswegs vor. Erst jetzt, als ich wieder in den Genuss seiner Berührung kam, wurde mir bewusst, wie sehr ich seine Nähe vermisst hatte.

Ich nickte zustimmend und ließ mich von ihm ins nun leere Klassenzimmer führen, nachdem alle anderen es verlassen hatten. Jasper ließ widerwillig meine Hand los und schloss die Tür. Und da es soeben erst zur Mittagspause geklingelt hatte, konnten wir sicher sein, dass wir den Raum für uns hatten.

„Versprich mir, dass du mich aussprechen lässt, okay?" Er fuhr sich fahrig durch die blonden Locken, während sein Blick meinen suchte. Ich erwiderte ihn und schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln. Egal, wie sauer ich auf ihn war, es war kaum zu ertragen, ihn derart aufgelöst zu sehen.

„Ich werde dich nicht unterbrechen. Versprochen", meinte ich und setzte mich auf den Tisch hinter mir. Jasper allerdings blieb mit etwa einem halben Meter Abstand vor mir stehen.

„Es tut mir leid, was passiert ist", begann er. „Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass Cam uns fotografieren würde. Ich hätte dich niemals so bloß gestellt, Melia. Bitte glaub mir. Als ich erfahren habe, was er gemacht hat, bin ich sofort zu Cam, um ihn mir vorzuknöpfen. Wahrscheinlich hätte ich ihm selbst die Nase gebrochen, wenn du mir nicht zuvorge-."

Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, erhob ich mich und brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen. Mehr hatte ich nicht hören wollen. Wenn er sagte, er hatte nichts damit zu tun gehabt, dann glaubte ich ihm.

Jasper war derart überrascht über meine plötzliche Reaktion, dass er regelrecht erstarrte. Es dauerte jedoch keine drei Sekunden, da entspannte er sich und erwiderte meinen Kuss. Erst nur zärtlich, geradezu liebevoll, dann energischer. Meine Hände wanderten zu seinem Nacken, spielten mit seinen wilden Locken.

Es war nur ein Kuss und doch hatte ich das Gefühl, als würde mein gesamter Körper unter Strom stehen. Jaspers Lippen auf meinen, seine Hand auf meinem Rücken - all das belebte die Schmetterlinge in meinem Bauch.

„Also gegen diese Art der Unterbrechung habe ich nichts einzuwenden", hauchte er zwischen zwei Küssen, die Lippen zu einem spitzbübischen Grinsen verzogen.

Ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. „Aber glaub ja nicht, dass du so leicht davon kommst. Wärst du und dein unwiderstehliches Grinsen nicht gewesen, wären wir beide erst gar nicht auf diesem Sofa gelandet."  Ich sah zu ihm auf und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen, um die Härte aus meinen Worten zu nehmen.

Jaspers Grinsen verschwand auf einmal, stattdessen wurde er ungewöhnlich ernst. „Wenn du wieder auf mich sauer sein solltest, rede mit mir bitte. Die letzten Tage ohne dich waren kaum zu ertragen." 

Ich ließ meine Arme von seinen Schultern sinken, um sie anschließend um seine Taille zu legen. Auf diese Weise konnte ich mich besser an ihn schmiegen. Mein Gesicht vergrub ich dabei in seiner Halsbeuge. „Tut mir leid", kam es mir leise über die Lippen. „Ich wollte meine Wut nicht an dir auslassen."

Er erwiderte nichts darauf, sondern verstärkte die Umarmung. Manchmal brauchte es keine Worte, um deutlich zu machen, dass alles wieder in Ordnung war.

Als es schlussendlich zur letzten Stunde des Tages klingelte, saßen Jasper und ich pünktlich im Musiksaal. Die Blicke unserer Mitschüler hafteten dabei an uns, wie lästige Motten, die das Licht umrundeten. Es war schrecklich! Man konnte sich nicht einmal mit dem eigenen Freund versöhnen, ohne, dass irgendjemand davon Wind bekam und sich darüber das Maul zeriss.

Da ich jedoch dank der letzten Tage geübt darin war, meine Mitschüler auszublenden, tat ich genau das in den nächsten eineinhalb Stunden. Die Einzigen, denen ich meine Aufmerksamkeit schenkte, waren Jasper und notgedrungen auch Miss Kane, die damit beschäftigt war, ihren Schülern den Wandel der Musik näher zu bringen.

Die ernüchternde Wahrheit jedoch war, dass der Großteil gedanklich breits beim Wochenende war und das trotz all ihrer Bemühungen. So ungern ich es auch zugab. Miss Kanes Unterricht war nicht uninteressant und ihre Art zu unterrichten ebenso wenig. Obwohl sie über längst Vergangenes sprach, schaffte sie es aber gleichzeitig, jedem ihrer Worte Leben einzuhauchen.

Das änderte allerdings nichts an meinem Desinteresse, mit ihr nach dem Unterricht zu sprechen. Und doch blieb mir nichts anderes übrig, als mich nach Schullschluss auf den Stuhl in dem kleinen Büro fallen zu lassen und die nächste halbe Stunde über mich ergehen zu lassen. Ms Kane wieder mir gegenüber und zwei dampfende Tassen Tee auf dem Tisch.

Wie auch beim letzten Mal fühlte ich mich mit jeder vergehenden Sekunde unwohler in diesem Raum. Insgeheim war ich daher froh, als Ms.Kane zu sprechen anfing.

„Ich nehme an, Sie haben auch heute nicht vor, mit mir zu sprechen." Es war keine Frage. Sie schien sich ziemlich sicher mit ihrer Vermutung.

Einen Moment erwiderte ich ihren Blick selbstbewusst und spielte mit dem Gedanken, stur zu schweigen. Sie hatte immerhin selbst gesagt, sie würde notfalls die gesamte Zeit mit mir in diesem Raum sitzen und schweigen.

Ich wusste nicht, ob es an der sonst so bedrückenden Stille lag oder an meinem Bedürfnis, ihr mein Missfallen über die ganze Situation nochmals klar zu machen. Fakt war, ich erwiderte etwas auf ihre Worte.

„Ich wüsste nicht über was wir reden sollten."  Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wie geht es Ihrer Hand? ", fragte sie überraschend.

„Ausgezeichnet", stieß ich provokanter, als beabsichtigt aus, ohne den Blick von ihr zu nehmen. „Als hätte ich nie einem ekelhaftem Kerl die Nase gebrochen." Tatsächlich waren die Schmerzen mittlerweile vollständig verschwunden.

Ms Kane ließ sich jedoch nicht beirren oder aus der Ruhe bringen.
„Und ihrem Gewissen?"

Obwohl die Frage früher oder später eh gekommen wäre, überrumpete sie mich dennoch. Stille breitete sich schlagartig in dem kleinem Zimmer aus. Die Luft schien immer dünner zu werden, obwohl frische Luft aus dem gekippten Fenster ins Innere strömte. Hatte ich das ungute Gefühl in meinem Inneren vor wenigen Minuten noch verdrängen können, so kehrte es nun wieder zurück. Gewaltiger als zuvor.

„Denken Sie darüber bis zu unserem nächsten Treffen nach, Ms Callahan." Es war Ms Kanes Stimme, die die aufkommende Panik schürrte. Sie war aufgestanden und sah mich mit einem Ausdruck in den hellen, blauen Augen an, den ich nicht so recht deuten konnte.

„Freitag zur gleichen Zeit im Musiksaal."

„Danke", entfuhr es mir unbeabsichtigt und doch erleichtert.

Ein kleines Lächeln stahl sich auf Ms Kanes Lippen, als wüsste sie ganz genau für was dieses Danke gedacht war.



Scherbenherz [TxS / GxG]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt