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Regungslos stand der Captain vor der Arrestzelle. Der Schiffsknast war fast vollständig leer. Eigentlich wie immer. Es kam selten vor, dass die Zellen gebraucht wurden, aber die Sternenflotte wollte, dass die Schiffe für alle Fälle vorgesorgt hatten. Es war vollkommen still im Raum, als er vor dem Sicherheitsfeld stand und in die Zelle guckte.
Kirk hatte dem Sicherheitsoffizier befohlen, draußen zu warten, solange er hier war. Die Insassin saß mit gespreizten Beinen auf der Bank, ihre vollkommen tätowierten Unterarme ruhten auf ihren Knien. Zwischen ihren Fingern hielt sie einen losen Faden, der sich aus ihrer Hose gelöst hatte. Der Einteiler für Gefangene lag neben ihr auf der Bank. Er war noch zusammengefaltet. Sie würdigte ihn keines Blickes, genau wie das Tablett mit Essen, das hinter dem dafür vorgesehenen Schlitz auf dem Boden stand. Es war das Insassen-Menü 2, wie er feststellte. Pasta, Salat, Mais und ein kleines Stück Kuchen. Kein Festmahl, aber man konnte es essen. Es musste schon längst eiskalt sein.
Sie bewegte keinen einzigen Muskel und ihre Augen starrten auf den weißen Fußboden.

Weiß, wie alles in diesem Raum, abgesehen von der Konsole und dem hellblauen Sicherheitsfeld. Wenn man lange genug auf die Wand starrte, sah man nach einiger Zeit Farben. Rot, grün, lila, pink, gelb. Einen ganzen Regenbogen. Irgendwann setzen Halluzinationen ein. Weiß war lebensfeindlich, steril, löste Unbehagen aus, machte einen irgendwann irre. Reine Psychologie, wie Kirk feststellen musste. Doch die Insassin starrte unbewegt weiter auf den gleichen Fleck. Sie stach deutlich heraus, besonders in dieser Zelle. Ihre Haut war knallbunt durch die vielen Tattoos, die überall zu sein schienen, außer in ihrem Gesicht. Plötzlich schnellte ihr Kopf nach oben und ihr leerer Blick starrte direkt durch ihn durch. "Du weißt, warum du hier bist?", setzte Kirk an.
Sie antwortete nicht. Sie starrte einfach nur weiter. Es wirkte fast so, als würde sie ihn gar nicht hören. Seit sie hier drin saß, hatte sie kein Wort gesprochen. Auch vorher war sie wortkarg gewesen. Alles was aus ihrem Mund kam waren Schreie, unverständliche, gebrüllte Wortfetzen und knurrende Geräusche, als sie schließlich überwältigt und mit Hand- und Fußfesseln fixiert wurde. Das Sternenflotten-Kommando hatte nicht einmal ihren Namen. Keiner wusste, ob sie überhaupt einen hatte. Es war unklar, ob sie sprechen konnte. Eigentlich wussten sie gar nichts über die Frau, die jetzt vor ihm saß und immer noch in seine blauen Augen starrte.

Sie mochte blau. Es war friedlich und kühl, wie der Ozean. Doch der Ozean konnte auch stürmisch und zerstörerisch sein. Der Ozean verschlang ganze Schiffe, Städte, Inseln und Länder, und doch beherbergte es Milliarden von Lebewesen. Das Meer brachte Tod und Verderben, aber es brachte und bewahrte auch Leben. Unter der Oberfläche war es still, unberührt, egal, was für ein Sturm draußen tobte. Das Meer war paradox.
Blau konnte hell und freundlich wie der Himmel sein, aber auch dunkel wie die Nacht. Es war vielseitig. Divers. Wie lange hatte sie keinen Himmel mehr gesehen? Oder besser gesagt, wie lange ist es her, dass sie bewusst stehengeblieben ist, um den Himmel oder den Ozean zu betrachten? Hatte sie das jemals gemacht?

"Kannst du mich verstehen?" Immer noch nichts. Wollte sie die Aussage verweigern? War das ihre Taktik? Natürlich durfte sie das, auch wenn es sinnlos war. Die Beweise gegen sie waren felsenfest. "Möchtest du nicht reden oder kannst du es nicht?" Langsam verlor er die Geduld. Was war los mit ihr? Und warum starrte sie ihn so an? Gut, er starrte sie auch an, also war es klar, dass sie ihn auch anstarrte. Ihr Blick durchbohrte einen beinahe. Sie hatte eine kleine Narbe an der Oberlippe, wie ihm auffiel. Sie war etwas heller als der Rest ihrer Haut. Von was sie wohl war?

"Wie heißt du? Wie lautet dein Name?" Kirk sah, wie sie den losen Faden um ihren Zeigefinger drehte und festzog. Schnell wurde ihr Finger knallrot durch das gestaute Blut. "Gut, dann fang ich an zu raten. Jennifer. Ashley. Maria. Anna. Katherine. Beatrice. Jane. Christina. Naomi. Samantha. Lola." Ein grunzendes Geräusch verließ ihre Kehle und sie starrte auf ihren Finger, der mittlerweile fast lila war. Sie löste den Faden und ihr Blut floss schnell weiter. "Lola? Ist das dein Name? Gut, dann nenne ich dich jetzt so. Lola."

"Nein." Kirk war fast erschrocken, als sie plötzlich etwas sagte. Ihre Stimme war rau und monoton, und doch bestimmend.

"Nein?"

"Nein", wiederholte sie in der exakt gleichen Tonlage.

"Ist das das einzige Wort, das du sagen kannst?"

"Nein." Sie ließ den Faden fallen. Er landete auf dem Boden. Verunreinigte das reine Weiß. Ließ es chaotisch wirken. Sie mochte Chaos. Chaos war ihr Leben. Es ließ sie fühlen. Extase. Adrenalin. Befriedigung, als sie sah, was sie angerichtet hatte. Wieder sah sie zu ihm auf.

"Rede ich mit einer kaputten Schallplatte?", fragte Kirk und verschränkte seine Arme vor der Brust. "Lola."

"Nenn mich nicht Lola", zischte sie und musterte den Captain. Er trug eine goldene Uniform. Gold für das Kommando. Gold wie das Edelmetall. Ordungszahl 79 im Periodensystem. Gold wie die kleine Leuchte, die damals in ihrem Zimmer brannte. Wie dieses Licht in ihren Augen gebrannt hat. Wenn sie die Augen nach einiger Zeit schloss, hatte sie helle Flecken hinter den Augenlidern. Doch sie hat sich immer darauf konzentriert. Manchmal flackterte das Licht wie der Nachthimmel bei einem Blitzeinschlag. Doch dann brannte es einfach weiter, als sei nichts passiert. So wie sie.

"Du kannst ja doch sprechen", stellte Kirk verblüfft fest. "Also, du heißt nicht Lola? Lass mich raten: Nein. Du hast reagiert, als ich den Namen genannt habe. Warum?"

"Es ist ein bescheuerter Name", ließ sie ihn wissen. Lola. Katherine. Beatrice. Als würde sie so einen spießigen Namen haben. Den hatten nur Leute mit einem Bilderbuch-Leben. Leute, die in einem perfekten, kleinen Haus in einer perfekten Vorstadtgegend aufgewachsen sind. Mit einem hübschen Vorgarten mit englischem Rasen und Rosenbüschen und einer Rutsche oder Schaukel im Hintergarten. Mit perfekten Eltern, die ihnen jeden Wunsch erfüllten und mit ihnen campen gingen oder sie mit in den Zoo nahmen. Momentan war sie das Tier im Zoo und der Captain war der Zuschauer, der sie wie ein exotisches Wesen durch die Gitterstäbe beobachtete. Sie war keine Lola, keine Katherine und auch keine Beatrice.

"Wie soll ich dich dann nennen?"

"Zero."

ZERO | james t. kirkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt