Kapitel 6

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Ich sehe auf. Mein Herr steht immer noch mit dem Rücken zu mir gewandt, aber ich kann mir sein Gesicht so gut vorstellen als stände er gerade vor mir. "Was hat es damit auf sich?" Für einen Moment ist nur das Rauschen des Wasserfalls zu hören, dann dreht er sich um. "Lass uns speisen, ich werde es dir erklären." Mit diesen Worten wendet er sich ab und begibt sich zu einem reich gedeckten Tisch in der Mitte der Plattform. Widerwillig folge ich ihm und setze mich. "Man erzählt sich in ganz Mittelerde von der wärmenden Wirkung der Sonnenkristalle. Sie müssen durch plötzliche Geistesblitze entstehen. Und wenn sie entstanden sind, dann nehmen sie mit der Zeit ein wenig deiner Lebenskraft auf. Und wenn man schwer verletzt ist, dann vermag die aufgenommene Kraft dich zu heilen. Du wirst den Verlust der Kraft nicht spüren, dich daran gewöhnen und dein Leben heftiger verteidigen. Also machen sie dich stärker. Ich bin erstaunt, dass es schon bei dem ersten Sonnenuntergang, den du hier bist, geschehen ist, aber ich heiße es gut. Es beweist deine innere Stärke. Aber ich merke, dass dir etwas auf dem Herzen liegt, liege ich richtig?" Seine Augen durchdringen mich, und mir entfährt ein Seufzer. "Meine Sorge gilt meinem Bruder. Er hat mich oft vor dem Tod bewahrt und mir das Kämpfen beigebracht, nachdem meine Eltern starben." Ein Schatten huscht über sein Gesicht. "Ich fürchte, dass ich dir nicht viel gutes berichten kann. Es geht ihm nicht schlechter, doch sein Zustand hat sich nicht verändert. Die Heiler Bruchtals versuchen alles, und auch ich habe ihm schon einen Besuch abgestattet. Doch ich möchte, dass du deine Rolle als Anführerin einer Wache unbelastet ausfüllst. Sollte ich bemerken, dass dich die Sorge um deinen Bruder zu sehr von den dir bestimmten Aufgaben ablenkt, so entnehme ich dir dein Kommando, denn in diesen Zeiten kann ein unachtsames Augenpaar tödlich sein. Lasst uns nun speisen, der Abend ist bereits fortgeschritten." Mir fällt die forsche Art etwas unangenehm auf, als wollte er mir etwas verheimlichen. Der Gedanke ist gerade zu Ende gedacht, da schäme ich mich schon für mich selbst. Herr Elrond hat mich aufgenommen und mir ein Leben in Wohlstand ermöglicht, und ich denke daran, dass er mir etwas verheimlicht? Das muss von der langen Einsamkeit kommen.

Nach dem Essen werde ich zu meinem Zimmer begleitet, denn ich kenne mich hier immer noch nicht aus. In der Zeit meiner Abwesenheit hat jemand schön verzierte Jagdgewänder und eine Halbrüstung auf mein Bett gelegt. Ich nehme an, dass ich dies morgen an meinem ersten Tag als Anführerin der Wache tragen soll, und schon wieder wird mir unwohl. Er hat mich noch nie kämpfen sehen, und ich möchte nicht behaupten, dass es eine leicht erbrachte Leistung ist, drei Spinnen allein zu töten, doch ich bin mir sicher, dass jeder einzelne aus meiner Wache dies schaffen sollte. Aber ich denke nicht weiter darüber nach sondern entledige mich meines Kleides und ziehe ein weißes, leichtes Nachthemd an. Erschöpft von dem langen Tag und seinen Ereignissen komme ich gerade noch dazu, meine Kleidung für den morgigen Tag von meinem Bett zu räumen, dann lege ich mich hin und falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Die Sonne strahlt hell in mein Gesicht, und ich bereue, die luftigen Seidenvorhänge nicht zugezogen zu haben.  Schnell springe ich auf und nehme ein schnelles Bad, flechte meine Haare nach hinten und schlüpfe in meine Kleidung. Eine dunkelbraune Lederhose, ein dunkelgrünes Lederwams und weiche Lederstiefel, alles mit kleinen Ornamenten verziert. Aufgeregt wie ich bin, schlage ich als erstes den falschen Weg ein und muss mich dann beeilen, um zu rechten Zeit am Waldrand zu sein, wo ich mich meiner Wache vorstellen werde. Während ich zwischen den Wasserfällen Bruchtals entlanggehe, werde ich immer nervöser. Was ist, wenn sie mich nicht akzeptieren? Und wenn sie alle viel besser sind als ich? Schließlich habe ich nicht sehr viel Kampferfahrung. Aber als ich die kleine Gruppe sehe, wie sie erwartungsvoll am Waldrand steht, fällt jegliche Nervosität von mir ab und ich kann mich entspannen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also fange ich einfach an zu reden. "Ähm... Hallo. Ich bin Neriwyn, und ich werde eure Wache anführen." Momente später wird mir bewusst, wie albern ich geklungen haben muss, schließlich wissen sie ja, wer ich bin und weshalb ich hier stehe. Aber ein Blick in ihre makellosen Gesichter sagt mir, dass sie sich nicht über mich lustig machen. Das erstaunt mich, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Auf einmal gerate ich wieder in Panik. Was soll ich denn jetzt sagen? Aber die Elbin, die mir am nächsten steht, hilft mir, indem sie vortritt und sich verbeugt. "Aranel, stets zu Diensten." Auf einmal sinken sie alle auf die Knie, und ich bin sprachlos. Weshalb beugen sie sich mir so schnell? Und schon wieder bin ich sauer auf mich selbst, auf mein Misstrauen. Es sind einfach nur loyale Krieger und Kriegerinnen. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. "Erhebt euch. Ihr sollt mir folgen, aber nicht vor mir niederknien."

Neriwyn - Mädchen des FeuersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt