1.2 Der Abstieg

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Der Weg aus der Stadt Ghantia hinaus ins Herz der Wüste war weniger beschwerlich als erwartet. Die Vorräte reichten geradezu perfekt, und während ihre Begleiter im nahegelegenen Dorf blieben und sich für den Rückweg ausrüsteten, würde Dhara selbst die Schriftrolle holen.

Frustriert knabberte sie an ihrer Lippe, während ihr einige Sandkörner ins Gesicht wehten. Sie durfte nicht erneut versagen, nicht, wenn sie weiter mit einem Dach über dem Kopf und genügend Essen auf dem Teller leben wollte.

Wenn sie überhaupt leben wollte, denn Lady Izcan würde nicht zimperlich sein, wenn sie keinen Nutzen mehr in ihr sah. Sie hatte keinen Zweifel, dass in diesem Spiel um die Vorherrschaft auf dem Roten Markt das eigene Leben der Preis war, den man setzte.

Der Auftrag war eigentlich simpel, geradezu lachhaft. Es ging um ein altes Stück Pergament, auf dem Informationen notiert waren, die ihre Lady anscheinend unbedingt in ihrem Besitz wissen wollte. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, weiter nachzufragen - es ging sie schlichtweg nichts an und interessierte sie auch nicht. Das waren die Regeln: Sie ließ sich als Bauer auf dem Schachfeld herumschieben und stellte keine Fragen, und im Gegenzug stand sie unter dem uneingeschränkten Schutz der Lady. Ein einfacher Handel.

Die Schriftrolle wurde in einer unter dem Sand begrabenen Bibliothek aufbewahrt, das hatten ihr zumindest ihre Quellen erzählt. Es sollte einfach sein, an sie heran zu kommen - letztendlich hatte es nur derart lange gedauert, weil kaum Menschen, die von dem genauen Standort der Bibliothek wussten, überhaupt noch unter ihnen weilten. Zumindest versuchte Dhara krampfhaft, sich einzureden, dass es daran lag und an nichts anderem.

Die Wahrheit war etwas komplizierter und schwerer, nachzuvollziehen.

Sie hatte Angst - Angst vor dem, was sie an diesem Ort erwarten würde, an den es sie nun seit einigen Jahren geradezu zog. Egal, was sie tat, es schien sie in Richtung der Großen Wüste außerhalb der Stadt zu führen. Ihre Träume handelten von endlosen Sanddünen und mamornen Säulen, abgeschliffen durch die Zeit, die aus den beinahe weißen Wogen ragten. Genau jenes Bild, das sich ihr nun bot.

Sie wäre auch längst hier her aufgebrochen, hätte sie nicht zu viel Furcht davor gehabt, was sie in der Bibliothek erwarten würde, geschweige denn, ob sie überhaupt den Weg finden würde. Schließlich waren es bloß Träume, die sie leiteten, und keine Landkarten.

Nervös strich sie sich eine kinnlange, schwarze Haarsträhne hinters Ohr, die sich jedoch sofort wieder loslöste und vor ihr rechtes Auge fiel. Die Kette, die an ihrem Hinterkopf in ihr Haar eingeflochten war, klirrte leise im Wind, als sie das dünne Stück Stoff, welches sie vor ihrem Gesicht befestigt hatte, abnahm und in die braune Tasche an ihrer Seite steckte. Jetzt, wo die weißen Säulen vor ihr aufragten und sie am Ziel angekommen war, brauchte sie diesen Schutz vor den unberechenbaren Winden nicht länger.

Mit einer fließenden Bewegung war sie von ihrem Mantikor - einer sandfarbenen, schuppigen Großechse, der die große Hitze nichts ausmachte - abgestiegen und hatte der Kreatur die Seile, die als Halfter dienten, abgenommen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe sie in den Dünen verschwunden war, auf dem Rückweg zu ihrer Heimat.

Dann wandte Dhara sich dem Eingang zu versunkenen Bibliothek zu. Vermutlich war es der ehemalige Ausgang zu einer Art Terrasse, doch das Gebäude war so tief abgesackt im Lauf der Jahrhunderte, dass man nur noch diesen einen Torbogen sah, der in einen quadratischen Turm führte. Rechts und links der Formation standen zerstörte Sockel, auf denen noch Teile von Mauerstücken, die vermutlich auf dem Boden schleifende Gewänder darstellen sollten, thronten. Vermutlich Abbilder der Götter, die zerstört wurden - ob von Mensch oder Natur konnte sie nicht sagen.

Langsam betrat sie das turmartige Gebäude und wurde von einer etwas muffigen Kälte empfangen, die sich stark von der unglaublichen Hitze der Wüste abhob. Wachsam lag ihre linke Hand auf dem Dolch an ihrer Seite, und mit langsamen, raubtierartigen Schritten stieg sie die schmale Wendeltreppe in den Turm hinab. Ein unwohles Gefühl hatte sich in ihrem Magen ausgebreitet, und auch, wenn sie nie viel für Intuition und Gefühl übrig hatte, so kam es ihr vor, als würde jemand sie aus dem Schatten des alten Gemäuers heraus beobachten.

Die Treppe führte in eine Art Flur, mit einer einzigen, dicken Doppeltür am Ende und bröckelndem Sandstein als Mauerwerk. Als sie vorsichtig eine der Türen nach innen drückte, quietschte es so ohrenbetäubend laut, dass die junge Diebin aufschreckte und sich panisch umsah. Wäre jemand in der Nähe, wüsste er jetzt sicher, dass sie hier war, und die Aufgabe wäre bereits gescheitert, ehe sie die Schriftrolle überhaupt gefunden hätte

Sie bemühte sich, ihren hastigen Atem zu beruhigen. Es würde sie sicher niemand gehört haben - die Bibliothek war schließlich seit Tausenden von Jahren verlassen, und sowieso einsturzgefährdet. Man müsste lebensmüde sein, um hier her zu kommen, geschweige denn hier zu leben.

Gerade, als sie den letzten Rest ihrer Nervosität abgeschüttelt hatte und darauf bedacht, nicht noch mehr auf sich aufmerksam zu machen, durch den schmalen Spalt schlüpfte, empfing sie ein grelles Leuchten."

„Was ist das für ein Leuchten?", fragte der zweitälteste Junge den Geschichtenerzähler begeistert. Dieser jedoch zwinkerte ihm bloß zu.

„Warte ab und sei geduldig, du wirst es schon noch herausfinden", meinte er, ehe er wieder zum Erzählen ansetzte.

Blutrubine und Sternenlicht || Short StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt