„„Du denkst, du kannst mich verarschen? Ich sage dir was: Heute in einer Woche bist du wieder da, und wehe, du trägst sie dann nicht bei dir ...", drohte Charis Izcan, ohne dabei laut zu werden. Sie war es gewöhnt, dass wenn sie sprach, es um sie herum still wurde", erzählte ein alter Mann jenseits der Grenze zu Si'an seinen drei jungen Zuhörern.
„Muss das denn wirklich sein? Wir sind doch lange zu alt für Kindermärchen", murrte der älteste der drei Jungen seinen jüngsten Bruder an, welcher daraufhin schüchtern nickte. Der mittlerweile grauhaarige Geschichtenerzähler lächelte derweil sanft, und erwiderte: „Das ist kein Kindermärchen, junger Mann. Das ist eine Geschichte, wie sie sich wirklich zugetragen hat, weit entfernt im Norden und vor vielen, vielen Jahren."
„Habt Ihr sie selbst erlebt?", fragte der zweitälteste der Jungen neugierig. Der Geschichtenerzähler nickte, das warme Lächeln noch immer im Gesicht. „Ja, tatsächlich durfte ich die Heldin dieser Geschichte ein Stück auf ihrer Reise begleiten", schmunzelte er. Der Älteste der Jungen jedoch wollte sich damit nicht zufrieden geben: „Das ist doch nur schon wieder so dahergesagt. Kommt, lasst uns gehen", meinte er zu den anderen Kindern. Die jedoch blieben auf dem Boden sitzen und warteten mit großen Augen ab, dass die Geschichte weiter erzählt wurde.
„Sieht so aus, als wollten deine Brüder die Geschichte hören", zwinkerte der ältere Mann den Kindern zu. Murrend setzte der Junge sich mit demonstrativ verschränkten Armen zu den anderen auf den roten Teppich.
Mit einem tiefen Atemzug begann der Erzähler, seine Geschichte fortzuführen:
„Dhara zuckte zusammen. „Ja, M'lady. Ich werde mich unverzüglich auf den Weg machen, M'lady", versprach sie mit gesenktem Kopf. Sie wollte ihre Lady nicht verärgern, nicht, nachdem sie sich bereits einen Fehltritt geleistet hatte, indem sie heute mit leeren Händen aufgekreuzt war.
„Das will ich doch hoffen. Ich brauche keine Diebin, die nicht stehlen kann, und wenn du deine Arbeit nicht richtig machst-", Charis beugte sich zu Dhara hinunter, wobei sich einige schneeweiße Strähnen aus ihrer mit goldenen, dünnen Ketten hochtupierten Frisur lösten, und flüsterte nahe Dharas Ohr: „- ist es sicherlich nicht schwer, einen Ersatz für ein einfältiges Straßenmädchen wie dich zu finden."
Dhara schluckte schwer, ehe sie eifrig nickte. Zufrieden erhob sich die Dame wieder und entfernte sich von der Diebin. Vorerst schien die Drohung zu genügen, um Dhara wieder ins Gedächtnis zu rufen, was für sie auf dem Spiel stand und wem sie ihre Treue geschworen hatte - ihr, Charis Izcan, einer Lady des Roten Markts.
Schließlich drehte sie sich um und machte einige Schritte in Richtung der großen, hellen Tür am Ende des Saals, bis sie Dhara ohne sich umzudrehen zurief: „Nun mach dich endlich auf den Weg. Husch husch, an die Arbeit!"
Sie hörte keine Schritte, jedoch verriet ihr das leise Klacken der zufallenden Tür, das Dhara den Raum verlassen hatte. Ein Schmunzeln schlich sich auf ihre Lippen. Zwar hatte sie sie in erster Linie für ihre etwas unangenehmeren Geschäfte angestellt, doch mittlerweile wusste sie auch die anderen Fähigkeiten des Straßenmädchens zu schätzen - beispielsweise ihre Gabe, sich ohne Aufsehen zu erregen von einem Ort zum anderen zu bewegen, oder ihr Talent für das Entwenden empfindlicherer Waren.
Beispielsweise magische Artefakte, die auf dem Roten Markt heiß begehrt waren, seit sie ein gewisses Angebot zu bieten hatte. Egal ob kleine Talismane, seltene Flüche oder arkane Kristalle, sie brauchte nur Dhara darauf anzusetzen und sie konnte sich sicher sein, dass sie bald das gewünschte Objekt zu ihrer Sammlung zählen konnte.
Inzwischen hatte sie ihre Räumlichkeiten erreicht und strich mit ihren langen, von der Wüstensonne gebräunten Fingern über den goldenen, von Runen verzierten Rahmen des Wandspiegels. Ein Seherspiegel, wie Schamanen ihn hoch im Norden des Landes nutzten. Hier, im Süden, waren diese Stücke selten - um an einen zu gelangen, musste man buchstäblich seine Seele verkaufen. Sie dagegen hatte den Spiegel diesem Wiesel Alaric Teron entwenden können, gemeinsam mit einem anderen Schatz. Alaric war immer noch auf der Jagd nach eben erwähntem Schatz, und wahrscheinlich würde er ihr jederzeit einen Dolch in den Rücken rammen, um sein Eigentum zurück zu bekommen.
Die Schwierigkeiten, die sie nun deswegen mit Alaric hatte, waren den Spiegel allerdings wert. Er ergänzte die Einrichtung hervorragend und hatte den angenehmen Vorteil, dass sie nicht nur mitbekam, welcher ihrer Angestellten wann was tat, sondern auch, dass sie erfuhr, nach welchem Artefakt welcher ihrer potenziellen Kunden demnächst nachfragen würde. Der Spiegel half ihr, allem und jedem einen Schritt voraus zu sein - eine unschlagbare Stärke auf dem Roten Markt und gegenüber Alaric, der ihren plötzlichen Erfolg nicht allzu gut vertrug.
Ganz in Gedanken versunken löste sie einige Rubine aus ihrem weißen Haar und legte sie auf den mamornen Tisch neben dem Spiegel. Ihr blutroter Glanz hob sich von dem schneeweißen Gestein ab wie der Mond von der Nacht. Sie liebte beide Farben: Rot und Weiß. Rot, weil es so perfekt ihre Persönlichkeit wiederspiegelte - nun, und ihr hervorragend stand, wie man ihr oft versicherte - und Weiß, weil es für eine Reinheit stand, wie Charis selbst sie nie verkörpern würde. Zu viel Blut klebte mittlerweile an ihren Händen und zu wenig Reue empfand sie wegen der Sünden der letzten Jahre.
Sie blickte wieder in den Spiegel, und hoffte von ganzem Herzen, dass der gewünschte Fall eintreten würde - doch so sehr sie auch hoffte, sie wusste, was zu tun war, sollte dieser Fall nicht eintreten, und sie wusste, dass sie es nicht genießen würde.
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Blutrubine und Sternenlicht || Short Story
خيال (فانتازيا)Eine Geschichte aus Elysin Mhyriam und Dhara - zwei vollkommen verschiedene Leben. Die eine war einst die Wächterin einer uralten, magischen Bibliothek, die andere stiehlt nun Artefakte, um sie an den Höchstbietenden zu verkaufen. Als Dhara einem Bi...