Das Licht hüllte sie ein wie ein glühendweißer Kokon, und Dhara blinzelte verwundert. Dann änderte sich die Szenerie und das Licht verblasste - statt seiner tauchte eine smaragdgrüne Wiese auf. Einige Palmen ragten hoch aus dem Gras empor, gemeinsam mit einigen mohnroten Blumen mit faustgroßen Blütenblättern. Es war wunderschön.
Über die Wiese rannte ein kleines Mädchen, die langen, schwarzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die hinter ihr her wehten.
Erst jetzt erkannte Dhara, hinter was das Mädchen herrante: ein azurblauer Schmetterling mit einer langen, aufstrebenden Flügelform und ebenso langen Fühlern. Dhara kannte diesen Moment - das war ihre Kindheit. Das kleine Mädchen dort war sie.
Doch sie konnte sich nicht an einen Tag an einem Ort wie diesem erinnern. In Ghantia herrschte überall Wüste, Gärten gab es nur auf den Grundstücken des Adels, Grundstücke, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
War das also Mhyriam? Die Frau, dass ihr anscheinend so ähnlich sah?
Das Mädchen drehte sich zu ihr um, als sie den Schmetterling zwischen den Bäumen verloren hatte. Dhara kniete sich auf den Boden und wollte das Mädchen ansprechen, doch sie spürte bloß ein kühles Kribbeln in ihrem Innern - dann war das Mädchen verschwunden. Dhara blickte sich um. Und staunte, denn hinter ihr lief die junge Mhyriam einfach weiter. Als wäre sie durch sie hindurch gelaufen.
Dhara sah dem Mädchen weiter nach und erkannte, wohin sie gerannt war. Auf einer Bank saß eine junge Frau, eine Lady mit schwarzem Haar, in das blutrote Edelsteine geflochten waren. Und im Gegensatz zu der jungen Mhyriam schien diese Frau sie zu bemerken, denn sie nickte Dhara kurz anerkennend zu, ehe sie in ihre Richtung sagte: „Ich hatte vermutet, dass du es schaffen würdest, herzukommen."
Dhara kannte diese Stimme - es war ihr eigene. Verblüfft starrte sie die Frau an, die nun, wo sie sie erkannt hatte, wahrhafte Ähnlichkeit mit Dhara selbst hatte. Das schwarze Haar trug sie zwar lang, doch es war dennoch das gleiche, die bloß leicht gebräunte Haut, die gerade Nase und die dunklen Augen. All das war sie selbst, und doch nicht. Derselbe Körper - eine andere Person.
„Was meint Ihr? Was hat das hier zu bedeuten?", fragte Dhara argwöhnisch. Mhyriam jedoch lächelte bloß und ließ ihren Blick zurück zu dem kleinen Mädchen schweifen. „Ich war ein liebes Kind, weißt du? So unschuldig, nicht wissend, was mirin ein paar Jahren passieren wird", stellte die Frau fest.
„Ihr redet von dem Überfall der Extremisten, oder? Aber das erklärt nicht, warum Ihr hier seid, fragte Dhara, bemerkte jedoch kurz darauf, dass sie zu direkt war und senkte den Kopf leicht. Eine alte Angewohnheit.
Mhyriam bemerkte das ebenfalls. „Es gab Zeiten, in denen du immer so gesprochen hast, stimmt's? Nun, da kanntest du auch noch nicht Drys."
Dhara schnaubte. „Ich glaube nicht, dass Drys etwas damit zu tun hat. Ihr habt meine Frage immer noch nicht beantwortet."
Dennoch ignorierte die Lady sie auch weiterhin. „Schau hin", meinte sie nur und wies zu dem jungen Mädchen, das einen weiteren Schmetterling über die Wiese jagte und schließlich vor einer weiteren Frau stehen blieb. Sie hatte ebenso schwarze Haare und haselnussbraune Augen wie die junge Mhyriam und wie Dhara selbst. Sie vermutete, dass es die Mutter von Mhyriam war und sie somit keine eigene Erinnerung sah - doch was machte dann Mhyriam hier? War es ihre Erinnerung?
Plötzlich veränderte sich das Bild erneut. Auf der Wiese entstand ein Haus, Stein für Stein und Diele für Diele. Doch als es stand und sich bloß noch die Menschen um das Haus herum bewegten, lachten und rannten, dauerte es nur wenige Minuten, ehe es Nacht wurde und andere, fremde Menschen auf das Haus zukamen.
Und in diesem Moment wurde sie zu dem kleinen Mädchen und sah mit an, wie es erst Dunkelheit wurde. Wie ihre Mutter sie lächelnd ins Bett brachte und sie dann einschlief.
Lärm weckte sie, wütende Schreie, die die Nachtluft durchschnitten. Das gehetzte Gesicht ihrer Mutter tauchte über ihr auf und sie zerrte sie aus ihrem kleinen Bett, hinaus ins Freie.
„Wo ist Vater?", fragte das kleine Mädchen. „Wo ist er? Wo ist Vater?" Doch ihre Mutter schüttelte nur mit tränenüberströmten Wangen den Kopf. Und sie spürte, wie sie gemeinsam mit ihrer kleine, heilen Welt zusammenbrach.
Als Dhara wieder in ihren eigenen Körper zurückkehrte, zeichneten sich feuchte Spuren auf ihren Wangen ab. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Immer und immer wieder brachen Erinnerungen des kleinen Mädchens über ihr ein wie die Wellen eines tosenden Meeres. Sofort saß Drystan neben ihr, doch sie stoß ihn beiseite. Panik verwandelte sich in Wut und sie schrie frustriert: „Geh weg! Verschwinde!" Drystan zog sich verwirrt zurück, jedoch ohne den Blick von ihr zu nehmen. „Was ... was ist geschehen?", fragte er.
„Du hast mir diese Erinnerungen in den Kopf gepflanzt, du warst das. Du hast mir alles genommen!", beschuldigte Dhara ihn, ihre Hände vor ihren Augen, um sich irgendwie vor den auf sie einprasselnden Erinnerungen zu schützen. Natürlich brachte es nichts.
Für einen Moment sagte keiner von ihnen etwas.
„Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich bin", flüsterte sie.
Anderorts, weit weg in Ghantia, stand Charis Izcan vor ihrem Seherspiegel und beobachtete das Geschehen in der Astralbibliothek.
„Jammerschade", murmelte sie, ehe sie einen weiteren funkelnden Rubin mit leuchtenden Partikeln darin in ihre Haare flocht und das Zimmer verließ.
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Blutrubine und Sternenlicht || Short Story
FantasyEine Geschichte aus Elysin Mhyriam und Dhara - zwei vollkommen verschiedene Leben. Die eine war einst die Wächterin einer uralten, magischen Bibliothek, die andere stiehlt nun Artefakte, um sie an den Höchstbietenden zu verkaufen. Als Dhara einem Bi...