1.4 Die Begegnung

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Dhara warf einen Blick hinter sich, ehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen den Jungen vor ihr fragte: „Wer bei den Großen Sieben ist Mhyriam?"

Der Junge schien jedoch nicht einmal zu bemerken, das sie etwas gesagt hatte, und machte einige Schritte auf sie zu, als wolle er sie umarmen. Sein Blick lag unentwegt auf ihr, und unwohl trat sie von einem Fuß auf den anderen, um dann zurück zu weichen.

„Deine Haare sind kürzer, und du trägst andere Kleidung", stellte er fest, „aber diese Augen, die hätte ich überall wieder erkannt. Meine Götter, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich je wiedersehen könnte."

Dhara trat zwei Schritte zurück. „Hör zu, ich weiß nicht, was für ein irres Spiel du hier glaubst, mit mir durchziehen zu können, aber die Tricks ziehen bei mir nicht. Ich erzähle dir gar nichts", sagte sie abwehrend. Wollte er über diese Masche etwa an Informationen über ihre Auftraggeberin gelangen? Das konnte er vergessen.

Seine Augen nahmen einen traurigen Schimmer an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine Iriden ungewöhnlich silber schienen, ein starker Kontrast zu seinen kurzen, dunkelbraunen Locken. „Mhyriam, Liebste -", setzte er mit bittendem Unterton an.

Dhara, nun geradezu verstört, machte eine abwehrende Handbewegung, als der Junge erneut auf sie zu kam. „Bleib mir vom Leib", zischte sie.

„Ich bin es, Drys. Es ist alles gut, du bist wieder in Sicherheit, ich schwöre, sie wird dir nichts mehr anhaben können. Du musst mir nichts vorspielen", flüsterte der Junge - Drys, wie er sich selbst genannt hatte - beruhigend, als spräche er mit einem verängstigten Tier. Dhara fauchte: „Ich sagte, bleib weg!"

Drys hob die Hände und blieb stehen. „Erinnerst du dich wirklich nicht an mich, Mhyriam?", hakte er, ohne den vorsichtigen Tonfall abzulegen, nach.

Dhara platzte der Kragen. „Mein Name ist Dhara!", rief sie, die Hand erneut an ihrem Dolch. Sie musste irgendwie fort von diesem Irren, der glaubte, sie als jemanden erkannt zu haben, der sie nicht war. Allerdings wusste sie jetzt, dass er ganz offensichtlich durch die Wände der Bibliothek reisen konnte, was eine Flucht nicht nur erschwerte, sondern beinahe unmöglich machte.

Sie hatte das Gefühl, in die Enge getrieben worden zu sein, und derjenige, der an dieser Situation Schuld war, war der Junge vor ihr. Explosionsartig schoss sie auf ihn zu, den Dolch in der Hand und ehe er sich versah, hatte sie ihn an eins der Regale gedrückt, den Dolch an seiner Kehle.

„Mhyriam", keuchte er, schien sich dann jedoch zu besinnen und korrigierte sich: „Dhara. Ich weiß, du bist verwirrt, das bin ich auch, aber wir können das wieder hinbekommen."

„Es gibt nichts, das man wieder hinbekommen müsste, höchstens dein krankes Hirn", fauchte sie. Getroffen blickte der Junge zu Boden, und erwiderte: „Ich verstehe, dass ich dir Angst gemacht habe. Ich kann alles erklären, du brauchst nur diesen Dolch aus der Hand zu legen." Vorsichtig versuchte er, die Klinge aus ihrer Hand zu nehmen, doch sie drückte seine Hand beiseite.

„Wo finde ich die Nebelnacht-Schriftrolle?", fragte sie, statt auf Drys Bitte einzugehen. Sie musste ihren Auftrag erfüllen - und wenn sie schon nicht unbemerkt bleiben konnte, würde sie die Befangenheit des Jungen gegenüber ihr ausnutzen. Jetzt, wo er glaubte, in ihr jemand anderen zu sehen, wäre er sicher nicht in der Lage, sie wie angedroht zu töten.

„Die Nebelnacht-Schriftrolle?", der Junge prustete, „Mhyriam, ich weiß, du bist noch irgendwo da drin - du musst doch wissen, dass ich dir diesen Fluch niemals aushändigen würde."

Dhara drückte die Kante des Messers gegen seinen Hals, sodass etwas Blut hervorquoll. „Ich meine es ernst. Gib. Mir. Die. Schriftrolle." Doch Drys lächelte nur und meinte: „Ich meine es auch ernst. Man hat mich ausgebildet, um die Bibliothek mit meinem Leben zu schützen. Wenn du mich tötest, hast du nichts gewonnen und ich kann sterben, in dem Wissen, ein letztes Mal dein Gesicht gesehen zu haben."

Frustriert fluchte Dhara und schmiss förmlich den Dolch auf den Boden. Sich die kurzen Haare raufend drehte sie sich um und stromerte rastlos den Flur auf und ab.

Es war wie verhext. Sie konnte nicht ohne die Schriftrolle gehen, gleichzeitig aber würde der Wächter sie nicht die Schriftrolle mit der Schriftrolle verschwinden lassen. Eine Patt-Situation.

Sie lehnte sich an eine der Wände und sank an dieser zu Boden. Ein Seufzen glitt über ihre Lippen. Einen kurzen Moment suhlte sie sich im Selbstmitleid.

Sie hatte versagt. Sie hatte eine Aufgabe, und sie hatte turmhoch versagt. Sie würde nun alles verlieren, einfach alles, was sie je besessen hatte - denn Lady Charis Izcan war der einzige Mensch, der sich um ein Straßenmädchen wie sie scherte. Alles, was sie je besessen hatte, hatte sie dieser Frau zu verdanken, und in dem Moment, in dem sie in Ungnade fiehl, war sie wieder allein.

Diese kriminelle Artefakthändlerin war das einzige, was für Dhara noch am nähsten an eine Familie kam.

„Ich habe eine Idee", hörte sie plötzlich die sternenklare Stimme von Drys.

Dhara schnaubte und sah auf. „Du kannst mir nicht helfen, Wächter, nicht ohne mir die Schriftrolle auszuhändigen."

Drys Blick begegnete dem ihren, ehe er sich neben sie auf den Boden setzte.

„Weißt du, in meinem ganzen Leben gab es eine Sache, die mir mehr bedeutete, als mein Schwur gegenüber dem Wächterorden", begann er zu erklären, „und das war Mhyriam."

Bevor Dhara einen spitzen Kommentar entgegnen konnte, sprach Drys weiter: „Ich mache dir ein Angebot, Dhara Ouro. Ich weiß, dass du in sechs Tagen wieder in Ghantia sein musst. Wenn ich dich bis dahin nicht davon überzeugen konnte, dass in dir zumindest ein Bruchteil von Mhyriam steckt, händige ich dir die Schriftrolle aus."

Blutrubine und Sternenlicht || Short StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt