1.3 Die Bibliothek

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„Das strahlendweiße Licht blendete sie, doch das weitaus größere Problem war, das sich die gesamte Materie um sie herum zu verformen schien. Mauern wurden zu Böden, die Decke klappte zu den Seiten um und Dhara kroch Übelkeit die Kehle hinauf. Ihr Magen drehte sich um, und sie verlor ihr Gleichgewicht. Beinahe intuitiv schloss sie die Augen, was sie jedoch noch mehr aus der Balance brachte.

Sie spürte, wie sie immer mehr wankte. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie spürte eine Kälte unter ihren Fingern. Ihre Handflächen brannten wie Höllenfeuer. Ein leises, schmerzerfülltes Zischen kam über ihre Lippen, während sie versuchte, sich wieder aufzurichten, jedoch erneut schwankte und umknickte.

Sie prallte mit einer Schulter gegen etwas Hartes und krallte sich beinahe panisch daran fest, ehe der Raum wieder zu kreisen begann und sich die Kante förmlich aus ihren Händen wand. Ihr Kopf wurde von der Drehbewegung nach hinten geworfen und gegen eine der Wände geschleudert. Sterne tanzten vor ihren Augen, sobald sie wagte, diese zu öffnen. Sie spürte, wie etwas Warmes ihre Schläfe hinab lief. Ihre Hand prallte knackend gegen etwas.

Als sie schließlich erneut die Augen öffnete, umhüllte sie nachtblaue Dunkelheit, nur durchbrochen von einzelnen hellen Lichtern über ihr. Sterne, wie ihr daraufhin klar wurde. Langsam richtete sie sich auf. Ihr Kopf dröhnte und sowohl ihre Hände, als auch ihre Knie schmerzten wie nach einem Sturz aus zu großer Höhe. Erschöpft rieb sie sich die Schläfe, dann richtete sie sich langsam auf und blickte sich ängstlich um.

Sie war in einer Bibliothek, doch ganz sicher nicht in einer, die seit Jahrhunderten unter Sand vergraben war. Nein, diese hier erstrahlte prachtvoll in all ihrem Glanz. Bücherregale in der Farbe von Mahagoni ragten bis hinauf zur gläsernen Decke des Raums, die den Blick auf den sternenklaren Nachthimmel erlaubte. In den Regalen selbst standen tausende und abertausende Bücher in den verschiedensten Farben und Größen, geordnet und gepflegt, als wäre erst vor Kurzem jemand hier gewesen.

Ganz egal, was das hier war - es war nicht das, was als die Versunkene Bibliothek von Ghantia bekannt war.

Wie war sie nur hier gelandet?

Sie verfluchte sich für ihre Unvorsicht - vielleicht hätte sie ansonsten längst die Schriftrolle, wäre also längst wieder auf dem Weg zurück in die Stadt - und wollte beginnen, einen Hinweis auf ihrem Aufenthaltsort zu suchen, als eine Stimme hinter ihr ertönte.

„Ich warne dich, Eindringling. Dein nächster Schritt könnte dich dein Leben kosten."

Sie hielt inne. Ihre Gedanken rasten förmlich, sich immer um die Frage drehend, was sie nun tun sollte, und kaum merklich begannen ihre Hände zu zittern.

Ohne sich umzudrehen erwiderte sie schließlich: „Ich suche keinen Streit mit Euch. Lasst mich passieren, und Ihr werdet mich nie wiedersehen."

Ein spöttisches Hüsteln drang an ihr Ohr. Die jungenhafte, klare Stimme meinte daraufhin nur: „Die Wächtergilde geht keine Kompromisse mit Dieben ein, Dhara Ouro."

Sie sog scharf die Luft ein. Kaum jemand kannte ihren Namen, für die meisten war sie bloß eine weitere Diebin im Dienst von Lady Izcan. Und die Anzahl derer, die ihren Nachnamen kannten, ging geradezu gegen Null - woher also wusste der Mann hinter ihr das alles über sie?

„Ich bin keine Diebin, Sire. Ihr müsst mich mit einer anderen verwechseln", log sie.

„Also nicht nur eine Diebin, sondern auch eine Schwindlerin, so?", fragte er, wobei sie ein Grinsen aus seinen Worten herauszuhören glaubte. Er schien die Situation trotz seiner anfänglichen Drohung nicht allzu ernst zu nehmen, genauso wenig, wie er Dhara ernst nahm.

Bei genauem Abwägen der Situation blieben ihr zwei Möglichkeiten. Entweder, sie spielte das Spiel weiter, und hoffte, so an die benötigten Informationen zu gelangen, oder sie ging das Risiko ein und nahm die Beine in die Hand, um ein anderes Mal und besser informiert zurück zu kommen. In Anbetracht der Tatsache, dass sie noch nie von der Wächtergilde gehört hatte, zu der sich der Mann zu zählen schien, und somit keinerlei Vorstellung davon hatte, was sie erwarten würde, entschloss sie sich für Letzteres.

„Ich bevorzuge es, mich als Spezialistin für das Ausborgen von Dingen zu bezeichnen, danke", versuchte sie, das Gespräch am Laufen zu erhalten, während sie mögliche Fluchtwege ausmachte.

„Das ist eine furchtbar alberne Bezeichnung, Dhara Ouro", entgegnete der Mann, anscheinend wirklich durch das Gespräch abgelenkt. Sie wollte sich eigentlich gar nicht darüber wundern, wie man so gutgläubig sein konnte.

Schließlich glaubte sie zu erkennen, das alle Gänge tatsächlich gleich aussahen und es somit ein reines Glücksspiel wäre, wenn sie nun versuchte, einen Ausweg zu finden. Allerdings - welche Möglichkeiten hatte sie schon?

Also entgegnete sie neckisch: „Ihr braucht mich nicht mit meinem vollen Namen anzusprechen, Sire."

Dann, kaum dass sie zu Ende gesprochen hatte, rannte sie los. Bei der ersten Möglichkeit, den langen Hauptgang zu verlassen, bog sie ab, um dann immer tiefer in die schier endlosen Flure aus Regalen vorzudringen. Ab und an wich sie einigen Bücherstapeln auf dem Boden aus, und als die Schritte hinter ihr immer leiser wurden, hielt sie siegessicher inne. Sie hatte es geschafft, und war dabei nicht einmal außer Atem gekommen.

In diesem Moment tauchte etwas aus einem der Bücherregale vor ihr auf.

Dort stand ein Junge, kaum älter als sie selbst - doch statt Andeutungen zu machen, Dhara zu ergreifen, starrte er sie bloß an.

„Mhyriam", flüsterte er.

Blutrubine und Sternenlicht || Short StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt