2.1 Die Blutrubine

14 7 7
                                    


Es war seltsam, wie schnell Dhara sich an Drystans Gesellschaft gewöhnt hatte, beinahe unheimlich. Zu Beginn hatte er ihr einfach die Bibliothek gezeigt, in der Hoffnung, allein der Anblick von Mhyriams ehemaligem Zuhause würde Erinnerungen in ihr wecken - Erinnerungen, die nicht ihre waren.

Die sogenannte „Astralbibliothek" war ein faszinierender Ort. Nicht nur, dass man von überall aus Blick auf die Sterne hatte, aber nirgends einen der drei Monde sehen konnte. Es war auch so, dass die Bücher ein Eigenleben führen zu schienen, denn augenscheinlich konnte ein Wächter mithilfe vom Standort eines Buchs zu einem anderen Standort eines anderen Buchs reisen. Kurz: Überall, wo es Bücher gab, konnte ein vollwertiger Wächter hingelangen.

Irgendwann jedoch, als Drys die Hoffnung aufgab, dass das bloße Ansehen von irgendwelchen Orten etwas bewegen könnte, schlug er ihr eine andere Möglichkeit vor.

„Wenn ich wüsste, warum deine Erinnerungen nicht mit denen von Mhyriam übereinstimmen ...", wandte er irgendwann ein.

Dhara seufzte. „Es ist zwecklos, Drys. Ich bin nicht sie, und deswegen habe ich auch ihre Erinnerungen nicht", erwiderte sie.

Drystan schüttelte nur den Kopf. „Das glaube ich einfach nicht. Du siehst aus wie sie, du sprichst wie sie - verdammt, du verhälst dich sogar wie sie damals, als sie noch keine Wächterin war. Es muss einen Zusammenhang geben, irgendetwas, das ich übersehen habe, als du die Astralbibliothek betreten hast", fluchte er leise.

„Ach, dann hast du mich also schon ab da ausspioniert?", fragte Dhara mir hochgezogener Augenbraue.

„Ich habe dich nicht 'ausspioniert'. Es ist meine heilige Pflicht, das Wissen dieser Bibliothek zu schützen, und du wolltest es stehlen", stellte Drystan grinsend klar. Mittlerweile war die Sache für ihn nur noch ein Scherz, und das, obwohl es erst wenige Stunden her war. Schätzte sie zumindest, denn hier gab es keinerlei Kennzeichen von Tageszeiten. Die Zeit hätte genauso gut stehen geblieben sein können, und man würde es wohl nicht bemerken.

Sie kamen beim Schlendern durch die Gänge der Bibliothek häufig an eigenartigen Büchern vorbei. Solche, die in dicken Eisenketten lagen, oder welche, die in reines Gold eingefasst wurden. Dhara hatte stets unauffällig Ausschau gehalten nach einer Schriftrolle, die mit „Nebelnacht" beschriftet war, doch fand sie keinerlei Hinweise darauf, dass ein derartiges Schriftstück überhaupt existierte. Vermutlich war das der Grund, warum Drystan sie auch frei hier herumlaufen ließ, den trotz ihrer Abmachung war und blieb sie eine Diebin.

Irgendwann jedoch blieb Drys vor einem dieser seltsam hervorstechenden Bücher stehen und starrte es wie hypnotisiert an.

„Ist alles in Ordnung?", hakte Dhara verwirrt nach. Keine Antwort. Eine unschlüssige Stille legte sich über die Beiden.

Schließlich flüsterte Drystan: „Ich glaube, ich habe die Lösung." Er griff nach einem dicken, blutroten Einband mit silbrigen Verzierungen und blätterte suchend in dem Buch herum. Dhara dagegen wartete ab, immer noch verwundert über die plötzlichen Entwicklung.

Was zu den Göttern hatte Drys gefunden? Hatte er endlich die Wahrheit erkannt?

Doch sie hatte augenscheinlich zu früh gehofft, denn Drys wollte kurz darauf wissen: „Trägst du etwas aus Edelstein bei dir? Etwas, das du schon sehr lange hast?"

Dhara schüttelte erst den Kopf, doch je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde es ihr, und das Kopfschütteln wurde zu einem Nicken. Mit einer langsamen, überlegten Bewegung fasste sie sich an den Hinterkopf, wo die dünne Silberkette eingeflochten war. Mit einigen geübten Handbewegungen hatte sie sie aus den Haarsträhnen gelöst und präsentierte sie auf offener Hand Drystan.

Drei winzige, aber geschliffene Rubine waren in dünnen Ringen in der Kette angebracht. Am Anfang befand sich ein leerer Ring, die anscheinend nur der Ästhetik dienten.

„Blutrubine", meinte Drys nachdenklich.

„Was für Rubine?", hakte Dhara - nun noch verwirrter - nach. Die Sache wurde ihr langsam etwas zu komplex für einen einfachen Fall von einem Missverständnis. Schließlich war sie nicht Mhyriam und wusste das auch ganz genau, doch Drys sah aus, als hätte er gerade den entscheidenden Beweis für das Gegenteil gefunden.

„Blutrubine. Du hast noch nie davon gehört?", fragte Drystan stirnrunzelnd.

Dhara schüttelte den Kopf. „Jetzt reite nicht darauf herum und erkläre mir, was du gefunden hast."

„Blutrubine sind Rubine, die mit Magie angefüllt werden. Du erkennst sie an diesen kleinen, leuchtenden Parttikeln, siehst du?", er deutete auf winzige, einschlussartige Punkte in den Edelsteinen, die mit bloßem Auge kaum erkennbar waren - außer natürlich, man suchte explizit nach ihnen. „Man nutzt sie, um Magie wirklich langfristig zu speichern. Meistens bestimmte Flüche oder Zauber, aber sie werden auch als simpler Speicher verwendet, für den Fall, dass die eigene Magie aufgebraucht ist", erklärte er weiter.

„Und woher hätte ich das jetzt wissen sollen?", fragte Dhara mit hoch gezogener Augenbraue.

„Du bist eine Artefaktdiebin, in erster Linie. Ich hielt es für wahrscheinlich, dass du wusstest, dass ein Behältnis für einen Zauber nur dann eine wirklich langanhaltende Wirkung hat, wenn es mit Blutrubinen versehen ist. Die meisten Talismane, die auf dem Roten Markt verkauft werden, sind unbrauchbar, weil sie wegen den fehlenden Blutubinen nur zwei oder drei Tage halten", erzählte Drystan. Dhara überlegte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihr das noch nie aufgefallen war - hieß das, Drystan log sie an?

„Und was bedeutet es, dass ich diese angeblichen Blutrubine nun bei mir trage?", fragte sie misstrauisch.

Drys erwiderte ernst: „Das bedeutet, dass die Blutrubine vermutlich mit einem erinnerungblockierenden Fluch belegt sind."

Blutrubine und Sternenlicht || Short StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt